Wenn Liebe Leiden schafft

Wege und Irrwege in der Paarbeziehung

Manfred Hanglberger, ein Topos-plus-Taschenbuch

 

 

Leseprobe

 

 

Liebe stößt schmerzhafte Heilungsprozesse an

 

„Liebe ist: Probleme lösen, die man alleine nicht gehabt hätte!“

Diese Lebenserfahrung ist nach Erkenntnissen der systemischen Psychologie durchaus begründbar. Denn man verliebt sich unbewusst in den Menschen, der einen an alte Schmerzen heranführt.

Wie diese Wahrnehmungsfähigkeit unseres Unbewussten funktioniert, ist noch rätselhaft. Offensichtlich sind wir viel intensiver miteinander in einem unbewussten Dialog, als wir uns das vorstellen können. Bei der „Liebe auf den ersten Blick“ wird offensichtlich über unser Unbewusstes eine Menge sehr wesentlicher Informationen über die Struktur unserer Psyche ausgetauscht, die geprägt ist von unserer gesamten Lebensgeschichte, von der Geschwister- und Elternkonstellation unserer Herkunftsfamilie und auch von unserer Vernetzung bzw. Verstrickung mit unseren sonstigen Vorfahren.

Die Andersartigkeit des Partners erleben wir zum Teil reizvoll, als das Neue, als das Andere, als die Erweiterung und Ergänzung unseres eigenen Wesens, unseres Lebensverständnisses und Lebenshorizontes. Aber wir erleben diese Andersartigkeit auch als Herausforderung, manchmal als unverständlich, als Verunsicherung, als unangenehm, als Belastung. Diese Seite wird in der frühen Phase des Verliebtseins meist nicht wahrgenommen, wird übersehen oder verdrängt.

Wenn wir den anderen nicht verstehen können, empfinden wir uns selbst als hilflos, als unfähig, als dumm, und sind in Gefahr uns dabei selbst abzuwerten oder fürchten, abgewertet zu werden. Abwertung des anderen in der Erfahrung des Nicht-Verstehen-Könnens ist also meist eine Schutzhaltung und Vorsorgemaßnahme gegen eine drohende Abwertung durch den Partner, nach dem Motto: „Angriff ist die beste Verteidigung.“

Wir verlieben uns intensiv also nur in einen Menschen, bei dem unser Unbewusstes in Kommunikation mit dessen Unbewusstem spüren kann, dass diese beiden Menschen, die sich da begegnen, aufgrund ihrer seelischen Struktur die Fähigkeit und Neigung mitbringen, sich gegenseitig in die jeweilige Welt der Verdrängungen und Abwertungen, in die Welt der Ausgrenzungen und der seelischen Schmerzen zu führen. D.h. sie werden sich gegenseitig herausfordern, seelisch weiter zu wachsen und zu reifen, seelisch ganz zu werden, alles Verdrängte und Abgewertete wahrzunehmen, anzunehmen und zu integrieren oder sie werden sich gegenseitig das Leben zur Hölle machen, sich seelisch gegenseitig zerfleischen.

Denn wer Liebe will, ohne die Geburtswehen der Seele zu akzeptieren, wer nur Harmonie und Geborgenheit will und sich die Erfahrung von Gegensätzen, von Konflikten, von Verunsicherungen und Angst ersparen will, der wird in verletzter und zorniger Weise dem anderen die Schuld zu geben versuchen für eine Welt, in der man um die Liebe auch kämpfen und ringen muss, in der man sich manchmal schwach, ohnmächtig, dumm und hilflos dabei erlebt.

Die Liebe weiß um die unerlösten Strukturen unseres Wesens. Aber sie glaubt auch an Heilung, an Ganzwerdung, an Erlösung. In der anfänglichen Liebe ist eine enorme Kraft der Hoffnung und des Vertrauens in das Leben enthalten. Sie wagt oft extrem schwierige Wege, um den Prozess der Individuation und damit die Geburt des Ichs voranzutreiben.

In der Ehevorbereitung sage ich zu den Brautpaaren: „Vielleicht wissen sie schon, dass sie durch ihre Partnerschaft in Zukunft einen Nebenjob bekommen?“

Auf den gewöhnlich sehr erstaunten und fragenden Blick der Paare erkläre ich ihnen dann, dass sie in der Partnerschaft als Projektionsfläche für die ungelösten seelischen Kindheitserfahrungen des anderen herhalten müssen. Denn, wem gegenüber sollte unser Unbewusstes es wagen, verdrängte Seelenanteile endlich ans Licht der Welt kommen zu lassen, wenn nicht gegenüber dem Menschen, von dem man sich am meisten geliebt glaubt, von dem man hofft, dass er es aushalten wird, wenn man ihn mit diesem „Seelen-Wust“ aus der eigenen Herkunftsfamilie belastet?

Das Problem ist, dass man ihm die eigenen seelischen Schmerzen so präsentieren wird, wie wenn er deren Verursacher und damit daran schuld wäre. Meist liefert der Partner einen „Auslöser“, einen für andere vielleicht unbedeutend erscheinenden Anlass, dass man entrüstet, verletzt, bedrückt oder zornig reagiert, aber die Heftigkeit der Reaktion enthält eine alte Energie, die mit meiner Vergangenheit oder mit der Verstrickung in meiner Verwandtschaft zu tun hat. Solche „Überreaktionen“ sind ein wichtiges Signal, um sich gemeinsam auf die Suche zu machen, unseren jeweiligen seelischen Energiehaushalt genauer anzuschauen.

 

 

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