Tränen, die heilen
Neue Wege der
Trauerbearbeitung
Manfred Hanglberger, ein Topos-plus-Taschenbuch
Leseprobe
Beim Abschiednehmen von einem
verstorbenen Menschen, der einem lieb war, ereignet sich nicht nur Trennung,
sondern ein hellsichtig werden für das, was ihn, den Verstorbenen, mit Menschen
und mit dieser Welt verbunden hat, was ihm Freude machte, was ihm lieb und
teuer war, wohin seine Aufmerksamkeit und seine Lebensenergie geflossen sind.
In der Trauer geschieht oft eine Weitung unserer seelischen Wahrnehmung.
Trauern heißt, den Schmerz um den Verlust annehmen, diesem Schmerz Raum geben
in sich, ihm Zeit lassen sich in mir auszubreiten, ihm die Möglichkeit zu
geben, mir auch unter Umständen die Fassung zu rauben.
Trauer ist die Würdigung der Beziehung
zu der Person, die man verloren hat; sie ist der Verzicht auf ein schnelles
Sich-Wieder-Hinwenden auf Eigenes, sie ist die Einübung des Loslassens und
gleichzeitig das innere Suchen nach dem, was bleibt und weiterwirkt in der
Beziehung zu dem Menschen, den ich verloren habe. Sein Weggehen drängt uns
innerlich geradezu, sein Leben als Ganzes wahrzunehmen und zu bedenken: seine
Kindheit, seine Entwicklungsjahre, seine Erfahrungen in Familie und Beruf,
seine Erfolge und Misserfolge, seine Schicksalsschläge und seine Lebensenergie,
seine Hobbys und sein evtl. ehrenamtliches Engagement. Wir versuchen, seine
seelische Dynamik, seine innere Lebendigkeit wahrzunehmen und seine wichtigsten
Gefühle mitzuempfinden. In der Trauer um einen Menschen entdecken wir eine in
uns aufsteigende moralische Forderung nach innerer Achtung vor diesem Menschen,
vor seinem Lebensweg und vor der Tatsache seines Todes. Wenn Trauer gelingt,
lernen wir dabei, uns innerlich vor ihm zu verneigen, in Ehrfurcht und Achtung,
in Demut und Ergebung vor der Tatsache seines Todes. Wer die Trauer in rechter
Weise zulassen und ausdrücken kann, wird erfahren, dass sie zur rechten Zeit
von selber wieder abnimmt, dass es irgendwann möglich wird, in den Tod des
Verstorbenen einzuwilligen und zurückzukehren in das innerste Ich des eigenen
Wesens und von dort her neue Wurzeln zu schlagen in dieser Welt.
Jeder tiefe Trauerprozess bedeutet auch
eine Verwandlung der Weise, wie wir zu dieser Welt dazu gehören, lässt uns
sensibler werden für die Beseeltheit der Natur, die uns umgibt und lässt uns
gleichzeitig selbst schon ein Stück Abschied nehmen von der vergänglichen
Außenseite dieser Welt.
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