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Die Würde Gottes ist unantastbar

0. Was als „Gott“ bezeichnet wird, ist für mich sehr wichtig. Und wie der Begriff „Gott“ ausgemalt wird, ebenso. Ich schaue auf die unzähligen Gottesfassungen, die amtlich oder privat im Umlauf sind. Ihre Logik, ihre Ethik, ihre Wirkungsgeschichte und alles in allem ihre Würde habe ich mir nicht nur zum Thema dieses Aufsatzes gemacht. Es ist auch und vor allem ein Lebens-thema.

1. Aufgewacht für dieses Thema bin ich durch bedrückende Erfahrungen mit den mir in Kindheit und Jugend zugänglichen Gottesbildern und Gottesge-schichten und durch deren therapeutische Aufarbeitung. Als Konsequenz habe ich etwas gemacht, was ich mir früher nie zugetraut hätte. Ich habe 1990 als Spiritual eines Bischöflichen Studienseminars dem zuständigen Diözesanbischof in einem persönlichen Gespräch mitgeteilt, dass es mir nicht mehr möglich sei, in Zukunft bestimmte biblische Texte in der Liturgie vorzulesen. Als ausgewähltes Beispiel habe ich die gruselige Geschichte der Opferung des Isaak, eine zentrale Lesung in der kirchlichen Liturgie der Fastenzeit und der Osternacht, angeführt. Diese damals angestoßene Thematisierung der „Würde Gottes“ in den gängigen Gottesbildern und Gottesgeschichten hat mich seither nicht mehr losgelassen. Ich habe ihr nach meinem Abschied aus dem priesterlichen Dienst ein Buch gewidmet, das ich mit „Gottestherapie“ überschrieben habe (Kösel 1995). Meine dortigen Ausführungen haben mir viel Lob und Beachtung eingebracht, aber auch Argwohn und Missachtung. Doch die Sache war auf dem Tisch, zumindest auf dem meinen.

2. Stark dazu angeregt, am Thema zu bleiben, wurde ich durch Erfahrungen in der religiösen Bildungsarbeit und therapeutischen Tätigkeit. Und in jüngster Zeit wieder durch die Beschäftigung mit dem großartigen Artikel 1 unseres deut-schen Grundgesetzes: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Noch nie habe ich früher über „Würde“ so viel Gutes gelesen und erfahren. Der Begriff hat mich wirklich mitgenommen. „Würde“ ist so immer mehr ein zentraler Begriff für mich geworden. Kein Wunder: Mein praktischer Alltag in Seelsorge, Therapie und Lebensberatung bewegte sich ja auch ständig in diesem Wortfeld und seiner Geistigkeit. Über diese Geistigkeit kann man beispielsweise in einem Buch des Gehirnforschers Gerald Hüther mit dem Titel „Würde“ viel Gutes und Schönes – und dies auch noch leicht verständlich - erfahren. Im Zusammenhang mit der Lektüre dieses Buches ist mir eines Tages ganz spontan die Überschrift meines hier vorliegenden Aufsatzes eingefallen: Die Würde Gottes ist unantastbar! Darüber zu schreiben, scheint mir heute eine passende Form zu sein, Gott die Ehre zu geben bzw. wenn man es so sehen will, zurückzugeben. Gott braucht selbstverständlich unsere Huldigung und Ehrerbietung nicht, aber wir brauchen einen ehrbaren Gott.

3. Grundsätzlich benötige ich für mein Leben, für meine Orientierung, für mein Verhalten, für mein Wachstum brauchbare Bilder und Vorbilder. Ohne Bilder und Vorbilder geht nichts. Mein Gehirn, meine Seele, ja Leib und Seele brauchen sie. Auch für die Entwicklung meiner Beziehung zu Gott, zum Letzten, Tiefsten, Größten, Würdigsten, was es gibt, brauche ich Bilder und Vorbilder, die mein Leben leiten und steuern, die mir helfen, meine Anlagen und Bedürfnisse zu entwickeln, Bilder, die mich anziehen, wenn nötig auch hochziehen, mich antreiben und mein Verhalten prägen. Leider ist das uns heute allgemein zur Verfügung stehende oder zur Verfügung gestellte Bilderangebot nicht mehr überschaubar und in Bezug auf ihre Qualität enorm fragwürdig und widersprüchlich. Diese Feststellung gilt auch für die Gottesbilder. Auch Gott wurde wie so vieles immer wieder in Bilder gefasst, überall auf der Welt, überall in der von uns überschaubaren Geschichte, bei allen Völkern, in allen Kulturen, in allen Religionen. Manche Fassungen wurden nicht nur obligatorisch, festgeschrieben, vorgeschrieben, sondern auch für heilig und unantastbar erklärt.

4. Im Blick auf die Qualität der Gottesbilder bin ich aus guten Gründen sehr sensibel geworden. In allen Bildern steht die Würde Gottes auf dem Spiel. Diese verlangt höchste Sensibilität, nicht viel anders als die Wahrnehmung und Beachtung der Würde der Schöpfung, des Menschen und meiner selbst. Würdelosigkeit und Verletzung der Würde sind heute Alltag, sind heute an der Tagesordnung. Und was so schlimm ist: Wir bemerken es oft gar nicht mehr. Wir nehmen es nicht mehr wahr. Das ist allen Ernstes auch mit vielen Gottesbildern so. Heute ist es Bestandteil meiner Denkwelt, dass eine ganze Reihe von gängigen christlichen Gottesbildern würdelos sind, dass sie der Würde Gottes nicht gerecht werden, dass sie die Würde Gottes beschädigen und unsere Liebe zu Gott erschweren bzw. Gott uninteressant oder sogar verhasst machen. Und es sind keine falsch verstandenen Bilder, wie man es oft weismachen will. Sie sind in sich falsch, einfach falsch. Und wurden vielfach zur Katastrophe, So manche Biographien sprechen davon. Doch diese werden durchgängig ignoriert.

5. 1990 habe ich ein erstes Mal mein Gefühl über würdelose Gottesbilder offen zum Ausdruck gebracht. Seither habe ich immer wieder Bilder ins Bewusstsein gehoben, die die Würde Gottes mit Füßen treten, die einfachster Logik und gesunder Moral widersprechen. Dieses auch öffentlich zu sagen, dazu gehört ungeheuerer Mut. Man muss als Anstoß zu diesem Mut die Folgen würdeloser Gottesbilder am eigenen Leib erfahren haben. Und man braucht für diesen Mut Unabhängigkeit von externen Deutungshoheiten, einen klaren Verstand, ein eigenständiges und gesundes inneres Empfinden, eine unverdorbene Feinfühligkeit, ein reines Herz, eine gehörige Portion Standfestigkeit und ein geschultes Bewusstsein für Würde. Aber anlagemäßig ist in uns immer noch etwas da, das uns sagt, wie Würde sein sollte. Dies ist bei der Durchsicht der Gottesbilder jedoch nicht immer einfach.

6. Ich habe für diesen Aufsatz vier Beispiele aus der Bibel ausgewählt, die mit würdelosen Gottesbildern und Gottesgeschichten zu tun haben, Geschichten, die des Gottes, an den ich glaube, unwürdig sind, Geschichten, die die Würde Gottes mit Füßen treten, die „um Gottes willen“ ausgemustert gehören. Ich habe vor Jahren in Bezug auf ihre qualitative Einordnung dazu Theologen außen vor gelassen. Ich habe mich im Rahmen der religiösen Bildungsarbeit immer wieder mit ganz normalen und einfachen Menschen mit dem Thema der „Würde Gottes“ beschäftigt. Ich habe also Texte aus der theologischen Begutachtung herausgenommen und ins Leben hineingestellt – und sie vom Leben, von normalen lebendigen Menschen beurteilen lassen. Dabei habe ich Erfahrungen gewonnen, die einmalig sind. Diese Menschen lieferten eine Exegese ganz besonderer Art. Ich möchte diese hier weitergeben.

Bei den vier Beispielen handelt es sich um den Gott der Paradiesgeschichte (Genesis 2 und 3), um den Gott aus der Geschichte von Kain und Abel (Genesis 4,1-5a), um den Gott der Opferung des Isaak (Genesis 22,1-19) und den Gott der Geschichte der Auflehnung Miriams und Aarons (Numeri 12,1-16). Die folgende Darstellung der jeweiligen Arbeitsvorgänge ist meinem Buch „Gottestherapie“ entnommen. Dort führe ich Folgendes aus (S. 84-95): „Im Rahmen einer praxisorientierten religiösen Gruppenarbeit lasse ich oft Texte sprechen, die unseren inneren Bildern von Gott zugrunde liegen. Ausgangspunkt ist gewöhnlich eine innere Not mit Gott. Gefragt wird, an welche biblische Vorgaben, an welche religiöse Unterweisung diese Not erinnert. Eine Reihe von Grundnöten ist an ganz bestimmten Texten unseres religiösen Erbes festzumachen. Auf den folgenden Seiten behandle ich zentrale Texte unseres Glaubens, die ich mit Kursteilnehmern durchgearbeitet habe. Zunächst möchte ich aber noch einige Worte zu meinem Vorgehen sagen. Ich versuche in einem ersten Schritt, die Geschichten, die Worte, die Bilder wie ein Haus aufmerksam zu betreten. Mit den Gruppenmitgliedern spüre ich der Frage nach, ob man hier wohnen, ob man sich hier wohlfühlen kann. Ich bekenne mich zu einem erfahrungsorientierten und existentiellen Ansatz, biblisches Fachsimpeln hat in diesem Rahmen wenig Platz. Mich interessiert, was die Leute sehen, hören, fühlen. Mich interessiert, was dasteht. Manipulationen, wie eine Geschichte zu verstehen sei, möchte ich ausschließen. Der Klartext ist wichtig. In einem vorläufigen konkreten Bild (etwa in einer Skulptur) werden die Positionen einer Geschichte sichtbar gemacht, werden die klaren Botschaften herausgearbeitet, wird die Situation erfühlt. Nicht nur der Kopf, auch Herz und Bauch dürfen arbeiten. Der Mensch nimmt auch Gottesgeschichten ganzheitlich auf. In einem weiteren Schritt bringe ich über verschiedene Methoden Dynamik ins Spiel. Die jeweilige Geschichte kann befragt werden (wie ein Psychosomatiker Symptome befragt), sie kann gespielt, mit dem Leben konfrontiert oder verfremdet werden. Wichtig ist dabei, auf der Erfahrungsebene zu bleiben, die in der Kindheit und bei einfachen Menschen allein wichtig ist. Am Ende jeder Arbeit mit religiösen Texten steht eine Entscheidung: Kann ich diesen Text annehmen oder muss ich ihn verabschieden? Entspricht er den Gesetzen der Logik und Ethik oder bedeutet er eine intellektuelle und moralische Vergewaltigung? Ist seine Wirkungsgeschichte einwandfrei? Entspricht er den Kriterien einer Symbolgeschichte oder wird er wegen seiner Ausweglosigkeiten schnell zu einer solchen gemacht? Manchmal habe ich als Ergebnis und Fortsetzung der Gruppenarbeit Geschichten auch neu geschrieben.

 

Bericht 1: „Vom Baum in der Mitte nicht!“ (Genesis 2,4b-9.15-17)

Hinführung zum Text:

Nach dem Abendessen gibt es einen „paradiesischen“ Früchtebecher. An diesen Gaumengenuss schließt sich ein Gespräch über die biblischen Paradiesgeschichten an. Die Teilnehmer des Kurses erzählen, was sie über das Paradies wissen. Das paradiesische Verbot, vom Baum in der Mitte zu essen, versuche ich, möglichst exakt zu erheben. Dann lesen wir den oben angegebenen Text.

1. Die Erarbeitung des Textes

Wir nehmen wahr, was der Text sagt. Wir wollen den Inhalt darstellen. Dazu suche ich sechs Personen, die in folgende Rollen schlüpfen: Gott, Adam, Eva, Baum, Gebot, Tod. Zusammen mit den Teilnehmern, die keine Rolle innehaben, erarbeite ich die Positionen, die Blickrichtung, das Verhalten und die Sätze der Rollenträger. „Gott“ wird zum Zeichen seiner Würde auf einen Stuhl gestellt, ihm gegenüber steht der „Baum“, drei bis vier Meter entfernt und ebenfalls auf einem Stuhl, links von „Gott“ stehen in geringer Entfernung „Adam“ und „Eva“, und hinter beiden finden „Gebot“ und „Tod“ Platz.. Einige Kissen hinter dem „Baum in der Mitte“ symbolisieren die übrigen „Bäume des Gartens“. „Gott“ sagt zu den Menschen: „Von allen Bäumen des Gartens dürft ihr essen, doch vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse dürft ihr nicht essen; denn sobald ihr davon esst, werdet ihr sterben.“ „Adam „ und „Eva“ wiederholen diesen Satz in der Wir-Form. Der „Baum“ spricht: „Ich bin der Baum der Erkenntnis von Gut und Böse; wer von mir isst, der wird sterben:“ Das „Gebot“ spricht den ersten Teil des Gottessatzes, der „Tod“ den zweiten Teil. Um die Dramatik zu spüren, sprechen „Gott“, der „Baum“, das „Gebot“ und der „Tod“ mehrere Male zusammen ihren Satz auf „Adam“ und „Eva“ hin, und diese wiederholen dann ihren Satz. Diese Szene wird dann noch zweimal gespielt. Dadurch steht nun der biblische Text klar und eindeutig im Raum.

2. Der Dialog mit dem Text

Ich frage nun die Rollenträger nach ihrem Befinden und nach ihren Gefühlen. „Gott“ sagt: „Ich bin zufrieden. Wenn sich die Menschen an mein Gebot halten, läuft das Unternehmen Schöpfung.“ „Adam“: „Das Paradies ist gefährlich!“ (und kratzt sich am Kopf). „Eva“ sagt: „Das ist genau der Gott, den ich nicht mag!“ Der „Baum“ sagt: „Ich bin etwas Besseres.“ Und: „Es geht mir gut.“ Das „Gebot sagt: „Ich fühle, dass ich etwas ganz Wichtiges bin!“ Und der „Tod“ lässt verlauten: „Ich bin der Gerichtvollzieher, eine unangenehme Rolle.“ Nun schließt sich ein Gespräch zwischen den Menschen und „Gott“ an. „Baum“, „Gebot“ und „Tod“ sitzen an der Seite Gottes. „Eva“ beginnt das Gespräch geladen und vorwurfsvoll: „Einen solchen Gott, wie du es bist, hasse ich!“ „Gott“ ist verwundert. „Adam“ versachlicht das Gespräch und fragt nach dem Sinn dieses Gebotes. „Gott wirkt etwas verlegen, sagt aber dann: „Ich bin Gott. Ich kann das.“ Das Gespräch geht in der Richtung weiter, dass die Menschen ihre Zweifel an der Güte und dem Wohlwollen Gottes äußern; sie fragen, ob Gott ihnen misstraue, warum er sie in Versuchung führe usw. „Gott“ bleibt seiner Rolle treu, was er geboten habe, habe er geboten; wer nicht hören wolle, müsse fühlen. Die Fronten bleiben hart. Das Gespräch wird beendet.

3. Die Beurteilung der Rolle Gottes innerhalb des Textes

„Gott“ selber schwitzt am Ende des Gespräches. Er sagt, dass er sich blöd vorkomme, er habe eigentlich keine Argumente für seine Verfügung gefunden, er spüre, dass er mit der Angst gearbeitet habe. Die Menschen kritisieren, Gott vertraue zuerst den Menschen die ganze Schöpfung an, dann nehme er ihnen wieder die Mitte. Kursteilnehmer werfen Gott vor, er zwinge oder verführe die Menschen gleichsam zur Sünde. Als Resultat wird festgestellt: In dieser Geschichte fühlt sich niemand wohl, weder die Rollenträger noch die aktiven Zuhörer und Zuschauer. Menschen erfahren einen Gott, in und mit dem man schlecht leben kann.

4. Die Konsequenzen aus der Arbeit mit dem Text

Teilnehmer vergleichen das eucharistische Ess- und Trinkgebot des Christentums mit dem „paradiesischen“ Essverbot. In beiden Fällen geht es um den Willen Gottes, um das Leben mit Gott, um Lebensmitte und Lebensmittel. Im Genesistext steht der Baum und seine Früchte im Mittelpunkt, in der eucharistischen Liturgie der Tisch und Brot und Wein. Doch neben den Gemeinsamkeiten sind die Unterschiede unverkennbar... Später erarbeite ich mit einer Kursteilnehmerin eine Alternative zum Genesistext: Gott erschuf den Himmel… Gott erschuf die Erde… Und Gott überblickte Himmel und Erde und freute sich. Er sah, dass alles gut war… In die Mitte des Gartens pflanzte Gott den Baum des Lebens… Und Gott sprach: Dir, Mann, und Dir, Frau, übergebe ich Garten und Baum. In euere Obhut übergebe ich alles. Ohne Einschränkung über gebe ich es… Nehmt von allem und esst! Nehmt von allem und teilt! Nehmt von allem und gebt weiter! Und nochmals sprach Gott: Der Baum in der Mitte, der Baum des Lebens, das bin ich für euch. Nehmt davon und esst! Nehmt davon und teilt! Nehmt davon und gebt weiter! So seid ihr lebendig, so bleibt ihr lebendig. Wer isst, wer teilt, wer weitergibt, der lebt. Wer nicht isst, wer nicht teilt, wer nicht weitergibt, der lebt nicht. Nehmt von diesem Baum. Nehmt von euerem Gott. Und der Mensch aß vom Baum des Lebens. Der Mann gab der Frau – und sie aß. Und die Frau gab dem Mann und er aß. Beide nahmen, aßen, teilten und gaben weiter: an Söhne und Töchter, an Kinder und Kindeskinder. Und alle waren glücklich und voll Leben. Und Gott blickte auf den Menschen und freute sich. Er sah, dass sein Werk wohlgelungen war.

 

Bericht 2: Lieblingskinder und Wegwerfkinder (Genesis 4,1-5a)

Aus Platzgründen gebe ich nur eine kurze Zusammenfassung meiner Gruppenarbeit wieder. Eine ausführliche Darstellung befindet sich in meinem Buch „Gottestherapie“ (S. 90-91). Als Ergebnis der Arbeit wird Gott vorgeworfen, er sei ein Willkürgott, der grundlos liebe und hasse. Im Text gibt es keinen Hinweis, dass Kain böse war, dass sein Opfer weniger wert war, dass er Gott weniger liebte als Abel. Ich erzähle, dass ich in einem Bericht über ein Bibliodrama zu Kain und Abel gelesen habe, Gott hätte am Schluss geweint und sich bei Kain entschuldigt. So nahe wäre ihm die „Entwicklung“ der Geschichte gegangen.

 

Bericht 3: Gott, Abraham, Isaak (Genesis 22,1-19)

1. Die Erarbeitung des Textes

Die Teilnehmer lesen den Text, der auf einem Arbeitsblatt vorliegt. Sie unterstreichen, was sie besonders anspricht.. Anschließend veranschaulichen sie mit einer Skulptur die Beziehungen der drei wichtigsten Personen des Textes: Gott, Abraham, Isaak. „Gott“ steht auf einem Stuhl, schaut auf „Abraham“ und zeigt mit dem Finger auf „Isaak“. „Abraham“ blickt unverwandt auf „Gott“ und verdeckt mit seiner Hand „Isaaks“ Augen und Gesicht. „Isaak“ sitzt am Boden und hält sein Gesicht „Abraham“ entgegen.

2. Der Dialog mit dem Text

Der Dialog mit dem Text geschieht heute in der Weise, dass „Abrahams“ Frau, „Sara“, zur Türe hereinkommt. Sie ist dahingehend unterrichtet worden, dass sie den vom Opfer zurückgekehrten Mann nur nach dessen Verbleib in der letzten Woche fragen soll. „Sara“ tritt aufgeregt „Abraham“ entgegen und fragt den sichtlich überraschten Mann fordernd: „Ich möchte wissen, wo Du und das Kind die letzten Tage ward. Ihr seid einfach weg. Ihr habt kein Wort gesagt. Mich geht das wohl nichts an?“ „Sara“ ist sauer. „Abraham“ erwidert etwas benommen: „Sei froh, dass wir wieder da sind!“ Auf diesen Satz hin wird es für „Sara“ erst recht interessant. Sie will nun unbedingt wissen, wo die beiden die ganze Woche waren. „Abraham“ versucht, sich herauszureden.. Er schämt sich sichtlich. Aber „Sara“ gibt nicht nach. So rückt „Abraham“ schließlich und endlich mit der Wahrheit heraus, „Gott“ habe die Opferung „Isaaks“ verlangt. Jetzt kann sich „Sara“ nicht mehr zurückhalten. Sie schreit erregt und wie eine Wilde „Abraham“ voller Verachtung an: „Du spinnst!“ Dann ist Schweigen im Raum. „Sara“ ist erschüttert. Schließlich fasst sie sich und wendet sich an „Isaak“: „Und was sagts du zu alledem?“ „Isaak“ blickt zu Boden und meint ergeben, der Vater wisse schon alles, was recht sei. „Sara“ schüttelt den Kopf. Sie versteht die Welt nicht mehr. In diese Situation greift „Gott“ ein und hält „Sara“ von oben herab eine Predigt. Er rühmt die Treue und den Gehorsam „Abrahams“, dieser wisse schon, was er mache. „Sara“ solle sich da nicht einmischen. „Sara“ kommt ins Wanken. Hier wird der Dialog abgebrochen.

3. Die Beurteilung der Rolle Gottes innerhalb des Textes

Dieses Mal sind die Zuschauer und Zuhörer gefragt. Der Tenor der Aussagen ist eindeutig: „Mich regt der Gott Abrahams ganz schön auf!“ – „Gott benimmt sich wie ein Vater, der sein Kind in den Keller sperrt, es nach zwei Stunden wieder herausholt und sagt: „Ich bin doch ein lieber Vater. Ich lasse dich nicht drinnen.“ – „Da kommt eine Frau mit einer klaren Frage und einem gesunden Hausverstand, und schon wackelt die ganze Männer-Gedankenwelt!“

4. Die Konsequenzen aus der Arbeit mit dem Text

Die Teilnehmer sind ermutigt, den Text als religionsgeschichtliches Material zu den Akten zu legen. Sie sind auch für die verschiedenen Interpretationen nicht mehr zu haben, die einem Text mit einem so bösen Geschehen noch einen gewissen Sinn abgewinnen wollen. Sie stellen die Frage nach dem Ort solcher Texte in Religionsunterricht und Liturgie.

– Zur Weiterarbeit empfiehlt sich der Vergleich Genesis 22,1-19 mit Richter 11, 29-40.

 

Hier unterbreche ich die Berichte aus meinem Buch „Gottestherapie“ für eine das bisher Gesagte ergänzende Einfügung. In meinem Buch „Ich bin auf den Grund gegangen, aber nicht zugrunde“ (epubli-Verlag 2013) berichte ich über eine weitere Beschäftigung mit dem Text der Opferung Isaaks. Dort schreibe und kommentiere ich: „Am eindrucksvollsten werden Texte und Geschichten in Aufstellungen „entwickelt“ und „entbunden“. Aufstellungen sind eine großartige Möglichkeit, biblische Figuren, ihr Denken und Handeln sehr persönlich kennen zu lernen. Sie dienen dem Verständnis und der Analyse der Charaktereigenschaften, der Ethik, der Logik, der Werte und Absichten der jeweiligen Figuren und unter anderem auch der „Prüfung der Kohärenz der Geschichte“ (Matthias Varga von Kibed – Insa Sparrer) und der Stringenz der Handlungsabläufe. 2012 habe ich für die Hauptfiguren von Gen 22,1-14 – also für Gott, für Abraham und für Isaak – drei Personen als Repräsentanten ausgewählt und in den Raum gestellt. Ich berichte hier nur über das Zusammentreffen der drei Personen mit Sara, der Frau des Abraham. Sara war in der Ausstellung klar als Sara benannt. Sie kannte aber die Identität der drei anderen männlichen Repräsentanten nicht. Nun passierte Folgendes. Gott interessierte sich sofort für Sara, fixierte sie, ging auf sie zu und verfolgte sie. Sara hatte auch nur Gott im Blick, bekam kurzfristig Angst, wich vor Gott zurück, fasste sich dann aber schnell und ging mit großer Power und einer unbändigen Wut wie eine Hyäne auf Gott zu, trieb ihn aus dem Aufstellungskreis hinaus, ging ihm an die Gurgel und schrie ihn an: „Dich bring ich um.“ Abraham und Isaak blieben Nebenfiguren, ebenso der Engel, den Gott zur Rettung Isaaks geschickt hatte und den ich ebenfalls in die Aufstellung hereinnahm. Er zog sich aber schnell aus der Aufstellung zurück und begründete seinen Rückzug damit, er sei hier eine „lächerliche Figur“, seine Rolle sei „lächerlich“, er wolle hier nicht mitmachen.“

 

Bericht 4: Die Auflehnung Mirjams und Aarons (Numeri 12,1-16)

Aus Platzgründen belasse ich es bei einer kurzen Zusammenfassung meiner Gruppenarbeit. Der Gesamttext ist in meinem Buch „Gottestherapie“ nachzulesen (S. 93-95). Auch hier ruft die Rolle Gottes Empörung hervor. Bedrückend wurde empfunden, wie Gott seine Auserwählten sichert, wie Meuterei gegen heilige Männer im Namen Gottes unterbunden wird, wie frauenfeindlich und sexistisch dieser Gott ist, wie schnell er zu Sanktionen bereit ist und wie grausam diese sein können. Geistig gesunde Menschen sind besser als er.

 

7. Will man die stattgefundene Arbeit zusammenfassend bewerten, dann muss man feststellen: Wenn diese vier ausgewählten Geschichten eine Selbstoffenbarung Gottes sind, wenn Gott, der höchste Würdenträger, den es gibt, sich so versteht, wie er sich in diesen Geschichten zeigt, dann ist dieser Gott in allen vier Fällen würdelos, dann bleibt er unter seiner Würde, dann tritt er seine eigene Würde mit Füßen. Es handelt sich um durch und durch unwürdige Selbstdarstellungen bzw. um absolut schlechte Visitenkarten. Ein sich so verstehender Gott erweist sich dann auch als nicht würdig, ihm zu dienen. Er behandelt gegen die Einsichten der heutigen Würdediskussion seine Geschöpfe als Objekte, über die er nach Einfall und Willkür verfügen kann. Solches Benehmen und Verhalten, wie vorgezeigt, ist unverständlich und nicht hinnehmbar. Solchen Gottesbildern ist „um Gottes willen“ absolut zu widerstehen. In eine solche Gottesfassung passt weder der Kopf, noch die Sehnsucht, noch die Liebe der Menschen.

Wenn man andernfalls den vier Geschichten das Prädikat „Gottes Wort“ entzieht und sie zu einem menschlichen Wort erklärt, von Menschen verfasst, wenn also Menschen, Erzähler, Gruppen, Völker Gott so verstanden haben, dann treten diese Verfasser und Nutzer der Geschichten Gottes Würde mit Füßen. Wenn Menschen Gott so abbilden, dann ist dies keine Gotteswürdigung, keine würdige Darstellung des Heiligen, sondern eher Gottesverdunklung, wenn nicht Gottesvergiftung.

 

8. Wenn ich mir zu meinem Thema meine eigenen Gedanken mache, dann komme ich zu dem Schluss, dass ich im Hintergrund meines Lebens kein würdeloses Sein, keine unwürdige Verhaltensfigur, kein mangelhaftes Vorbild brauche. Das benötigte Bild muss höchst anspruchsvoll sein. Wenn ich des weiteren dem Thema „Menschenwürde“ in meinem beruflichen Alltag große Beachtung schenke, wenn ich sehe, was große Denker heute zum Wort „Würde“ sagen und wenn ich auf den Artikel 1 unseres Grundgesetzes stolz bin, dann muss ich über den würdelosen Gehalt so manchen Bildmaterials über Gott erschrecken.

 

9. Ich wünsche der Theologie der Kirche ein Gespür dafür, was sie so alles mitschleppt, was sie so leichtfertig zur Etablierung einer schwarzen Religionspädagogik anbietet, was sie auch noch beweihräuchert, für heilig erklärt und in das Kleid eines „Evangeliums“, einer „Frohen Botschaft“ hüllt, oder was sie – oft bewundernswert - aus Texten herauspresst oder in sie hineininterpretiert. Ich wünsche der Theologie auch ein Gespür dafür, wie vieles sie verschämt in den Hintergrund oder unter den Tisch stellt und verschweigt, statt offen mit der Sachlage umzugehen. Und ich wünsche der Theologie, dass sie die umfassende Betroffenheitsliteratur ernst nimmt und nicht diffamiert. Zur Interpretationsbegabung der Theologie noch ein Beispiel: Wenn man die Paradiesgeschichte retten will, indem man sie überschreibt: „Wie man Gott verliert“, dann hat man gar nicht bemerkt, dass bei der vorliegenden Inszenierung der Geschichte dieser Gott mit seiner Vorgabe von Anfang an verloren hat. Was man versteckt oder verbietet, ist immer interessanter als was man offen hinlegt. Gott traut den Menschen nicht. Das ist die Sache! Dann lebt es sich bei allen Entbehrungen und Belastungen außerhalb des Paradieses leichter als innerhalb, in einer Atmosphäre des Misstrauens und der Angst. Man braucht nur eine bestimmte Feinfühligkeit, ein unverdorbenes Taktgefühl – und man weiß Bescheid, wie sinn- und würdelos diese Geschichte ist. Wenn es um das Höchste geht, muss man die Messlatte sehr hoch legen.

 

10. Ein Wort zum Schluss: Meine Präferenz, mein eigentliches Interesse gilt würdigen Gottesbildern. Sie gibt es auch. Wie gerne nehme ich den Gott in den Blick, der in Jesus zu mir und zu jedem Menschen sagt: „Du bist mein geliebter Sohn, an dir habe ich Gefallen gefunden“. Aber leider sind diese die Würde Gottes nicht antastenden Bilder mit den Gottes unwürdigen eine sonderbare Legierung eingegangen. Schade, dass man dort, wo es um die Würde Gottes geht, „um Gottes willen“ Menschen sensibilisieren muss, genauer hinzuschauen und Lebensmittel von faulen Eiern unterscheiden zu lernen. Die Theologie kennt würdevolle Gottesbilder, was ihr aber nicht erlaubt, zu verschweigen, dass es auch die anderen gibt. Meine einfachen Kursteilnehmer haben einst durch ihr Mitmachen Gott die Ehre gegeben. Ich denke: Sie wussten nachher besser, was es heißt, zu beten: „Ich glaube an Gott“ – und was es heißt, zu hören: „Gott liebt euch“. Worauf sie sich einließen, das war Glaubensarbeit.

Lorenz Zellner, Dezember 2018

 

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