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Genügsamkeit, Lebensqualität und innerer Friede
222. Die christliche Spiritualität schlägt ein anderes Verständnis von Lebensqualität vor und ermutigt zu einem prophetischen und kontemplativen
Lebensstil, der fähig
ist, sich zutiefst zu freuen, ohne auf Konsum
versessen zu sein.
Es ist wichtig,
eine alte Lehre anzunehmen, die in verschiedenen religiösen Traditionen und auch in der Bibel
vorhanden ist. Es handelt sich um die Überzeugung, dass „weniger mehr
ist“. Die ständige Anhäufung von
Möglichkeiten zum Konsum
lenkt das Herz ab und verhindert, jedes
Ding und jeden Moment
zu würdigen.
Dagegen öffnet
das gelassene Sich-Einfinden vor jeder Realität,
und sei sie noch so klein, uns viel mehr Möglichkeiten des Verstehens und der persönlichen
Verwirklichung.
Die christliche Spiritualität regt zu
einem Wachstum mit Mäßigkeit an und zu einer Fähigkeit, mit dem Wenigen froh zu sein. Es ist eine Rückkehr zu der Einfachheit, die uns erlaubt innezuhalten, um das Kleine zu
würdigen, dankbar zu sein für die Möglichkeiten, die das Leben bietet, ohne
uns an das zu hängen, was wir haben, noch uns über das zu grämen, was wir nicht
haben. Das setzt
voraus, die Dynamik
der Herrschaft und der bloßen Anhäufung von Vergnügungen zu meiden.
223. Die Genügsamkeit, die unbefangen und bewusst gelebt
wird, ist befreiend.
Sie bedeutet nicht weniger Leben, sie bedeutet nicht geringere Intensität,
sondern ganz das Gegenteil. In Wirklichkeit kosten
diejenigen jeden einzelnen Moment mehr aus und erleben ihn besser, die aufhören, auf der ständigen Suche nach dem, was
sie nicht haben, hier und da und dort etwas aufzupicken: Sie sind es, die
erfahren, was es bedeutet, jeden Menschen und jedes Ding zu würdigen, und die
lernen, mit den einfachsten Dingen in Berührung zu kommen und sich daran zu freuen.
So sind sie fähig, die unbefriedigten Bedürfnisse abzubauen, und
reduzieren die Ermüdung und das versessene Streben. Man kann wenig
benötigen und erfüllt
leben, vor allem,
wenn man fähig
ist, das Gefallen an anderen Dingen zu entwickeln und in den geschwisterlichen Begegnungen, im Dienen, in der Entfaltung der eigenen Charismen, in Musik und Kunst, im Kontakt mit der Natur
und im Gebet
Erfüllung zu finden.
Das Glück erfordert, dass wir verstehen, einige
Bedürfnisse, die uns betäuben, einzuschränken, und so ansprechbar bleiben für die vielen Möglichkeiten, die
das Leben bietet.
224. Genügsamkeit und
Demut haben im letzten Jahrhundert keine Wertschätzung erfahren. Wenn jedoch die Übung irgendeiner Tugend im
persönlichen und im gesellschaftlichen Leben
allgemein nachlässt, dann verursacht das schließlich viele
Unausgeglichenheiten, auch in der Umwelt. Darum reicht es nicht
mehr, nur von der Unversehrtheit der Ökosysteme zu sprechen. Man muss auch wagen, von der Unversehrtheit des menschlichen
Lebens zu sprechen, von der Notwendigkeit, alle großen Werte
zu fördern und miteinander zu verbinden. Das
Verschwinden der Demut in einem Menschen, der maßlos begeistert ist von der Möglichkeit, alles ohne jede Einschränkung zu beherrschen, kann letztlich der
Gesellschaft und der Umwelt nur schaden. Es ist nicht leicht, diese gesunde
Demut und eine zufriedene Genügsamkeit zu entwickeln, wenn wir eigenständig werden,
wenn wir Gott aus unserem
Leben ausschließen und unser
Ich seinen Platz
einnimmt, wenn wir glauben, es sei
unserer Subjektivität anheimgestellt zu bestimmen, was gut und was böse ist.
225. Andererseits kann kein Mensch
in einer zufriedenen Genügsamkeit reifen,
wenn er nicht im Frieden
mit sich selber
lebt. Ein rechtes
Verständnis der
Spiritualität besteht zum Teil darin, unseren Begriff von Frieden zu
erweitern, der viel mehr ist, als das Nichtvorhandensein von Krieg. Der innere Friede
der Menschen hat viel zu tun mit der Pflege der Ökologie und mit dem Gemeinwohl, denn wenn er authentisch gelebt wird, spiegelt er sich in einem ausgeglichenen Lebensstil wider,
verbunden mit einer Fähigkeit zum Staunen, die zur Vertiefung des Lebens
führt. Die Natur
ist voll von Worten der Liebe. Doch wie können
wir sie hören mitten
im ständigen Lärm,
in der fortdauernden und begierigen Zerstreuung
oder im Kult der äußeren Erscheinung? Viele Menschen spüren eine tiefe Unausgeglichenheit, die sie dazu bewegt, alles
in Höchstgeschwindigkeit zu erledigen, um sich beschäftigt zu fühlen, in einer ständigen Hast, die sie wiederum dazu führt, alles um sich
herum zu überfahren. Das wirkt sich aus auf die Art, die Umwelt
zu behandeln. Eine ganzheitliche Ökologie beinhaltet auch,
sich etwas Zeit zu nehmen,
um den ruhigen
Einklang mit der Schöpfung
wiederzugewinnen, um über
unseren Lebensstil und
unsere Ideale nachzudenken, um den Schöpfer zu betrachten, der unter uns und in unserer
Umgebung lebt und dessen Gegenwart „nicht hergestellt, sondern
entdeckt, enthüllt werden“ muss.
226. Wir sprechen von einer
Haltung des Herzens, das alles mit gelassener
Aufmerksamkeit erlebt; das versteht, jemandem gegenüber ganz da zu sein, ohne
schon an das zu denken, was danach kommt; das sich jedem Moment widmet wie
einem göttlichen Geschenk, das voll und ganz erlebt
werden muss. Jesus
lehrte uns diese Haltung, als er uns einlud, die Lilien des Feldes und die Vögel
des Himmels zu betrachten, oder als er in der Gegenwart eines
unruhigen Mannes diesen ansah
und ihn liebte
(vgl. Mk 10,21).
Ja, er war jedem Menschen und jedem Geschöpf gegenüber ganz da, und so zeigte
er uns einen
Weg, die krankhafte
Ängstlichkeit zu überwinden, die uns oberflächlich, aggressiv und zu
hemmungslosen Konsumenten werden lässt.
227. Ein Ausdruck dieser Haltung
ist, vor und nach den Mahlzeiten
innezuhalten, um Gott Dank zu sagen. Ich schlage den Gläubigen vor, diese
wertvolle Gewohnheit wieder aufzunehmen und sie mit Innigkeit zu leben.
Dieser Moment des Segensspruchs erinnert uns, selbst wenn er ganz kurz ist,
an unsere Abhängigkeit von Gott für unser
Leben, unterstützt unser
Empfinden der Dankbarkeit für die Gaben
der Schöpfung, erkennt
jene an, die mit ihrer
Arbeit diese Güter besorgen, und stärkt die Solidarität mit denen, die am meisten bedürftig sind.
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