Aus: Lorenz
Zellner, „Gottestherapie – Befreiung von dunklen Gottesbildern“:
Der Baum vor Evas Nase und
das Verbot zu essen (Genesis 2,17)
Früher öfter als heute wurde Grimms Märchen »Marienkind«
erzählt:
Ein Holzhacker übergibt aus lauter Armut
sein einziges Kind, ein dreijähriges Mädchen,
der Jungfrau Maria.
Diese verspricht, dem Mädchen Mutter zu sein,
für es zu sorgen -
und nimmt es mit hinauf in den Himmel.
Dort ist alles schön und gut.
Doch mit 14 Jahren wird es auf die Probe gestellt.
Die Jungfrau Maria vertraut ihm die Schlüssel
zu den 13 Türen des Himmelreiches an:
Zwölf Türen darf das Mädchen aufschließen,
aber die dreizehnte ist ihm verboten.
»Hüte dich, sonst wirst du unglücklich«,
sagt Maria zu ihm.
Doch die Begierde im Herzen ist stärker,
erzählt das Märchen weiter.
Das Mädchen sperrt eines Tages auch die 13. Türe auf
und sieht dahinter die göttliche Dreieinigkeit
in Feuer und Glanz sitzen.
Alsbald empfindet es eine gewaltige Angst -
und die Angst wollte nicht mehr weichen.
Von der Jungfrau Maria zur Rede gestellt:
»Hast du es gewiss nicht getan?«,
sagt das Mädchen dreimal »Nein«.
So wird es mitten in eine Wildnis verbannt.
Von einem Königssohn entdeckt und geheiratet
nimmt ihm die Jungfrau Maria
jedes ihrer drei neugeborenen Kinder,
weil das Mädchen, inzwischen Königin geworden, weiter lügt:
»Nein, ich habe die verbotene Tür nicht geöffnet.«
Weil ihre Kinder spurlos verschwinden,
wird die Königin zum Tod auf dem Scheiterhaufen verurteilt.
Erst als das Feuer schon ringsum zu brennen anfängt,
erzählt das Märchen,
»schmolz das harte Eis des Stolzes
und ihr Herz war von Reue bewegt.«
»Ja, Maria, ich habe es getan«, ruft sie
laut.
Wegen ihrer Reue wird das Feuer
durch einen Regen vom Himmel gelöscht.
Und die Jungfrau Maria gibt ihr ihre drei Kinder zurück
und schenkt ihr Glück für das ganze Leben.
Soweit diese erbauliche Geschichte mit
moralischem Zeigefinger. A. Miller beschreibt in ihrem Buch »Du sollst nicht
merken« das Schicksal eines Mädchens, das in diesem Märchen »Marienkind« sich
selbst und ihre Lebensgeschichte entdeckt. Das Mädchen schreit in einem
Wutanfall: »Was für ein grausames Spiel treibt sie (die Jungfrau Maria, Anm.d.Verf.) da eigentlich mit ihrem Pflegekind?« Auch Inge, das ist der Name des Mädchens, wurde von
ihren Erziehern immer wieder bewusst in Versuchungssituationen gebracht. Ihr
Empfinden, was dieses Märchen betrifft, kann auch uns die Augen öffnen.
Schauen wir die Gemeinheit an: Die Jungfrau Maria hatte immerhin versprochen,
dem Kind eine gute Mutter zu sein und für es zu sorgen. Hier aber versagt sie
vollends: Statt ein vierzehnjähriges Mädchen in das Leben einzuführen, ihm
die Weite des Lebens zu erschließen, ihm Mut zur Entdeckung des Lebens zu
machen, es durch Versuch und Irrtum und Erfolg zu begleiten, wird mit dem
Kind ein Spiel veranstaltet, an dem das Kind scheitern muss. Dass dieses
Scheitern sich auch noch im Himmel abspielt, ist besonders makaber.
Was die Jungfrau Maria mit diesem Spiel eigentlich im Sinn hat, wird nicht
offengelegt. Die Spielchen und Ideen der »Großen« darf man ja nie
hinterfragen! Will sie sich amüsieren? Will sie das Kind klein halten? Will
sie ihm seine Schwächen beweisen? Will sie ihm zeigen und beweisen, dass sie
größer ist und mehr kann und mehr weiß? Was will sie und die vielen anderen,
die mit Menschen, mit ihrer Einfachheit und mit ihrem Wissens- und
Eroberungsdurst Versuche machen?
Ein Idealbild der Jungfrau Maria wird uns hier nicht gezeigt. Maria vertraut
dem Kind Schlüssel an und verbietet zugleich recht gemein ausgedacht - , alle anvertrauten Schlüssel zu benützen. Liegen in
diesem Vorgehen nicht Menschenverachtung, fundamentales Misstrauen,
fundamentaler Zweifel am Kind, ein Stück Demütigungsversuch? Eine liebende
Mutter hat es nicht nötig, ihr Kind in Versuchung zu führen und auf die Probe
zu stellen, ob es treu, brav, ehrlich und fleißig ist. Sie wird ihrem Kind
nichts unterstellen, wird es nicht verdächtigen, wird es nicht in Gefahr
bringen.
Oder will die Jungfrau Maria ihre besondere Stellung herauskehren, dass sie
eben mehr weiß als andere? Warum will sie dem Kind etwas vorenthalten?
Welchen Grund hat sie? Kinder äußern oft genug den Verdacht, dass die
Erwachsenen etwas wissen, was sie ihnen vorenthalten und das macht dann viele
Sachen noch spannender. Kein gesunder Sterblicher sieht ein, dass es von Haus
aus Privilegierte geben soll!
Auf welche Bahn sich die Jungfrau Maria mit ihrer Probe begibt, sieht man am
Fortgang der Geschichte: Welche Gewalt muss sie im Namen der Liebe und Sorge
anwenden, um die »Folgen« ihres Einfalles wieder zu beheben! Ein Kind wie
Inge kann mit Recht fragen: Warum macht sie das alles? Was ist das für ein
Himmel?
Und was ist das für ein Menschenbild! Statt ein Kind mit letzter Liebe zu
umfangen und ihm die geschuldete Sicherheit und Geborgenheit zu geben, muss
eben dieses Kind durch Proben und Versuchungen Beweise der Liebe und des
Gehorsams erbringen. Es wird in große Verlegenheit, in höchste Gefahr
gebracht, seelisch und geistig überfordert. Vom kleinen Mädchen wird
verlangt, dass es ethisch höher steht als die Jungfrau Maria. Versuchung ist
nun einmal ein fauler Trick. Misstrauen ist seine Basis. Ich meine: Gute
Erzieher versichern sich anderweitig der Liebe ihrer Kinder. Wie gefährlich
wird hier Gottes Welt, wie gefährlich wird hier der Himmel! Das Schöne wird
rundweg verboten, es wird ausgeklammert. Dabei drängt alles Schöne nach
Mitteilung und sicher auch der Gott hinter der dreizehnten Türe.
Inge hat recht: »Was für ein grausames Spiel treibt sie (die Jungfrau Maria)
da mit ihrem Pflegekind?«12Die gleiche
Inge hat während ihrer Behandlung auch die Worte geschrien: »Die Geschichte
der Eva im Paradies ist eine Gemeinheit, warum hat Gott ihr den Baum der
Erkenntnis vor die Nase gestellt und ihr verboten, davon zu essen?«
Damit trifft Inge einen ganz wunden Punkt der christlichen Verkündigung: die
Versuchung der ersten Menschen und ihren Sündenfall.
Genesis 1 und 2 bringen zum Ausdruck: Gott hat dem Menschen eine schöne Welt
und Gott hat dem Menschen einen menschlichen Partner anvertraut. Und nun
kommt in Genesis 3 eine »schwache« Geschichte, in der dieser »Gott« restlos
versagt. Die Geschichte ist gut gemeint, aber keine »Offenbarung«.
Eigentlich müsste man ja erwarten, dass Gott in Genesis 3 den Menschen in
seine Welt einführt, wie es Eltern mit ihren Kindern tun. Aber stattdessen
dreht sich alles um eine Forderung, die Gott stellt. Der Eindruck entsteht,
dass »Gott« seine Welt dem Menschen nur mit Vorbehalt bzw. eingeschränkt
anvertraut hat. Das Leben wird nicht als ein Geschenk aus der Hand Gottes
angesehen, sondern primär als Probe, als Prüfung verstanden, die es zu
bestehen gilt. Das ist bis heute »eingefleischtes« Wissen vieler aszetischer
Bücher und menschlicher Köpfe.
Dabei braucht der Mensch für sein Leben in dieser Welt eine Hilfe, einen
Wegbereiter, der mit ihm ins Unbekannte geht, der ihm Mut macht, der ihm
Vertrauen zu den vielfachen Angeboten des Lebens ermöglicht. Stattdessen wird
er willkürlichen, unbegründeten, undurchsichtigen und zu kurz greifenden
Forderungen unterworfen, wird bedroht und unter Dauerleistungsdruck gesetzt.
So ist der Mensch für diesen »Gott« nicht Partner, sondern Untertan und
Prüfling, der zeigen soll, ob »Gottes« Werk gelungen ist.
Dieser »Gott« zeigt dem Menschen auch nicht die wahren Grenzen seines Lebens,
das rechte Maß der Dinge, oder die Mitte, die zu jedem Leben gehört. An echte
Grenzen herangeführt zu werden ist etwas ganz anderes als ein billiges
Essverbot zu erlassen. Solches sieht eher nach Ausschluss vom Leben und nach
»Neid der Götter« aus, keine Gleichberechtigten zu dulden. Innerhalb dieser
Vorgaben muss »Gott« konsequent scheitern: im Paradies und noch viel mehr auf
der »verfluchten Erde«. Was da »Gott« im Sinn hatte, wird nicht gesagt, was
der Verfasser im Sinn hat, von welcher Plattform aus er denkt, ist nicht
schwer zu erraten. Doch mit der heutigen Kritik an seinem Gottesbild hat der
Verfasser nicht gerechnet, ebenso wenig auch die Kirche, als sie die
Gottesbilder des Alten Testamentes pauschal übernahm und für die Glaubenden
als verpflichtend erklärte.
Wie sieht dieses Gottesbild in Genesis 3 nun aus? Man muss dieses Bild lange durchmeditieren, man muss haarscharf unterscheiden, um
das Ungenügende zu erkennen:
-»Gott« schafft sich Untertanen. »Mensch, du
bist mir unterworfen«, sagt dieser »Gott«. Er duldet kein echtes Gegenüber.
Da schlägt kein partnerschaftliches, sondern ein Herr-Knecht-Verhältnis
durch.
-»Gott« knüpft die Gabe des Menschseins an sonderbare Bedingungen. Zuerst
gibt er alles, dann hat er wieder seine Vorbehalte, die so unbegründet und
willkürlich, von außen auferlegt und nicht aufgrund der Natur der Sache zu
ergehen scheinen.
-»Gott« ist ängstlich, skeptisch, vorsorgend. Er baut Sicherungen ein, damit
seine souveräne Stellung nicht erschüttert wird. Nichts soll ihm gefährlich werden. »Gott« hat direkt Angst vor dem
Gedanken, ein Mensch könnte wie Gott werden (Der Gott Jesu hat später keine
Angst, er sperrt den Menschen nicht aus, er lässt ihn zu sich zu).
-»Gott« führt durch seine Anordnung in Versuchung. In den Schriften des Neuen
Testamentes ist es der Satan, der in Versuchung führt (Markus 1,12-13 par.).
-Der Baum scheint für »Gott« wichtiger zu werden als der Mensch. Bei Jesus
ist der Mensch eindeutig wichtiger als der Sabbat (vgl. Markus 2,27).
-»Gott« legt ein Verhalten an den Tag, das auch später bei Abraham, bei Ijob, bei Jesus Schule machen wird. Immer geht es um das
Modell »Prüfung Gehorsam/Ungehorsam«.
Man kann sich fragen:
- Hat es Gott wirklich nötig, den Menschen zu versuchen?
- Muss die Liebe des Menschen zu Gott dauernd unter
Beweis gestellt werden?
- Gab es in den frühen Zeiten
Israels wirklich keine Menschen, die ein besseres Bild für Gott abgegeben
hätten als die Patriarchen und Despoten des Alten Orient, die sich durch alle
möglichen Proben und Prüfungen die »Treue« ihrer Diener sichern mussten?
Und wie sieht das Menschenbild von Genesis 3
aus? Es ist genauso wie im Märchen vom Marienkind: Das Opfer wird nicht
gefragt, ob es unter diesen Bedingungen überhaupt leben will, ob es dem
Versuch zustimmt. Am schlimmsten wird das später bei Isaac und Ijob. Der
Mensch muss sich letztlich von Gott hereingelegt fühlen. Was für ein
grausames Spiel treibt da Gott mit dem Menschen! Schon hier ist der Mensch
restlos der Willkür Gottes ausgeliefert, der nach dem AT mit dem Menschen tun
kann, was er will: die Ägypter verwerfen und Israel bevorzugen, Abel lieben
und Kain hassen.
Außerdem erscheint bereits hier in diesem Text der Mensch als ein von seinen
Trieben Bestimmter. Und diese Triebe werden so verstanden, dass sie nicht
nach oben, sondern von Anfang an nach unten führen mussten. Dadurch wird der
Abstand zu »Gott« noch deutlicher.
Beachtenswert ist auch das Weltbild unseres
Textes. Hier scheint durch, dass Gott eine Welt hier auch noch ein Paradies
gemacht hat, die ständig in Versuchung führen muss, also Konkurrenz für Gott
wird. Alice Miller schreibt: »Was ist das für ein Paradies, in dem es unter
Sanktionen des Liebesverlustes und des Verlassenwerdens,
des sich Schuldig- und Beschämtfühlens verboten
ist, vom Baum der Erkenntnis zu essen, d.h. neugierig zu sein? Wer war dieser
widerspruchsvolle Gott-Vater, der es nötig hatte, eine neugierige Eva zu
erschaffen und ihr gleichzeitig zu verbieten, ihr wahres Wesen zu leben?«13
Ich fasse zusammen: Die Theologen
Israels haben kein Idealbild der Güte Gottes zustande gebracht. An Genesis
2,17 und 3 sowie an vielen anderen Stellen kann man sehen, wie subjektive
Wahrnehmung und intentionale Ideologie (»Interessenstheologie«) in die
sogenannte Urgeschichte hineingelegt wurden. Aber weder alle alten Mythen
noch alle Interessen Israels eignen sich für die Schaffung eines brauchbaren
widerspruchslosen Gottesbildes. Schade, dass sich jüdische und christliche
Theologen immer noch auf diese Bilder berufen und sie als wahre und echte
Gottesbilder hinstellen.
Im bisherigen Verlauf meiner Abhandlung wurde schon gelegentlich deutlich,
dass Jesus ein anderes Gottesbild gelehrt und gelebt hat. Er kennt keinen
Gott, der mit dem Menschen spielt, der ihn in Versuchung führt. Sein Gott
kennt keine versteckten Tricks, das Denken seines Gottes ist aufrichtig,
offen und klar.
Besonders Herrschaft und Kontrolle sind dem Gott Jesu fremd: »Die Könige
herrschen über ihre Völker, und die Mächtigen lassen sich Wohltäter nennen.
Bei euch aber soll es nicht so sein ...«, so heißt es in Lukas 22,25.26. Bei
Jesus wird es als göttliche Sache hingestellt, das Leben der Menschen zu
fördern und zu schützen, nicht einzugrenzen und zu behindern.
Auch Strafen liegen Jesus und seinem Gott fern. Die ungastlichen Samariter
werden nicht bestraft (Lukas 17,11 ff.).
Der Gott Jesu hält sich auch die Menschen nicht vom Leibe, er lässt die
Kinder zu sich kommen sowie die Zöllner und Sünder. Er liebt sie, wie sie
sind; er wird durch ihren Undank und Ungehorsam nicht verunsichert; er hat
einen langen Atem; er droht nicht mit Vertreibung und Hölle; er misstraut
nicht; er stellt die Menschen nicht dauernd auf die Probe.Für
das Reich Gottes, das Jesus verkündet, gibt es keine Prüfung, keine Probe oder
Probezeit, keine Zulassbedingungen. Jeder ist
eingeladen. Von Gott gehen weder Druck noch Stress aus, er arbeitet mit
Verständnis und Liebe. Der Gott Jesu wird nicht böse, auch wo er abgelehnt
wird. Er ist nicht Richter, sondern Retter. Und kein Mensch wird ihm
letztlich gefährlich, auch nicht der Mensch, der Jesus umbringt oder im
ersten Anlauf ablehnt.
Jesus zeigt, wie Gott denkt. Und Gott kann im Paradies nicht anders denken
als zur Zeit Jesu. Ein Gott, der Mensch wird, lässt
den Menschen zu sich und hält ihn nicht fern. Ein Gott, der Mensch wird, hat
keine Angst vor dem Menschen, er vertraut ihm.
Aber auch Jesus wurde wieder überholt und überrollt. Die alten Geschichten
haben sich auch im Christentum durchgesetzt. Das ganze Leben ist auch für den
Christen wieder zu einer Prüfung geworden; die Noten werden beim Endgericht
bekanntgegeben. Das Leben selbst wird als große Versuchung hingestellt, der
Mensch als schwach und begierlich und Gott selbst
wird wieder unterstellt, dass er »in Versuchung führt« oder führen kann. Aber
Gott sei Dank wurde in den Evangelien Jesus nicht mehr von Gott versucht und
auf die Probe gestellt, sondern vom Satan. Das ist zumindest ein kleiner Sieg
des Gottes Jesu.
Es wird noch viel klarer Unterscheidungen und damit wirklicher Gratwanderungen
im Denken und Fühlen bedürfen, bis der Gott Jesu im Denken des einzelnen
Christen wieder in seiner ganzen Klarheit, Eindeutigkeit, Liebe und Güte
aufleuchtet.
|