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Mit
Ängsten umgehen Ein Thema der Religionen
Religionen wollen den Menschen in ihren Ängsten
beistehen. Der Ursprung wohl aller Religionen ist mit diesem Anliegen der
Angstbewältigung verbunden. Andererseits ist es ein wesentliches Anliegen der
modernen Religionskritik aufzudecken, wo die Religionen selbst sinnlose,
einschüchternde und entmündigende Ängste wecken. Übermächtige, strafende und
mit unverständlichen Geboten drangsalierende Gottesbilder sind in diesem
Zusammenhang vielen Gläubigen bekannt. So erleben manche Menschen ihre Religion als ein Medikament
für das Leiden „Angst“ mit starken „Nebenwirkungen“. Wie es auch bei
körperlichen Krankheiten vorkommen kann, so können auch im seelischen Bereich
die Angst schaffenden Nebenwirkungen der Religion schlimmer sein als das
ursprüngliche Leiden. Wo dies stattfindet und bewusst wird, ist der Abschied
von der Religion eine häufige Konsequenz. Ein Glaube, der die Seele nicht heilt und nicht hilft,
die Belastungen des Lebens auszuhalten bzw. zu überwinden, muss sich der
„Vertrauensfrage“ stellen. So sind die Glaubwürdigkeit und die Lebendigkeit einer
Religion wesentlich mit der Frage verbunden, wie sie mit den Ängsten der
Menschen umgeht. „Angst“
hat mit „Enge“ zu tun. Angst überwinden, von Angst erlöst werden oder auch
Angst, deren Ursachen wir nicht beseitigen können, auszuhalten, bedeutet,
Raum zu bekommen in der äußeren Welt und Raum bekommen in der inneren Welt. =>
Denn wir bekommen Angst, wenn der
Platz zum Leben in der äußeren
Welt uns zu eng zu werden droht, wenn wir also äußerlich gefährdet sind.
Das sind die Ängste, die den Überlebenskampf der Menschen seit Jahrtausenden
begleiten; das sind die Ängste, die gewaltige Anstrengungen und Fortschritte
in der Medizin, in der Technik, in Sicherheitssystemen und Versicherungsorganisationen
aller Art hervorgebracht haben. Diese Ängste sind immer weniger ein Thema der Religion. Dann gibt es aber auch Ängste, die haben mit dem inneren,
dem seelischen Raum des Menschen zu tun. => Da gibt es
den seelischen Raum im eigenen Herzen; ob wir in uns
selber „wohnen“ können, ob wir es in uns selbst aushalten, ob wir die
Vielfalt und Gegensätzlichkeit der Gefühle in uns, wie z.B. Trauer,
Sehnsucht, Zorn usw. in uns zulassen können. Oder ob wir innerlich besetzt
sind von ständig überfordernden Erwartungshaltungen von Mitmenschen in der
Familie, in der Arbeit oder auch in der Pfarrgemeinde. Manche haben sich
selbst Ziele gesetzt, durch die sie ständig über die Grenzen ihrer Kräfte
gefordert sind. Oft sind dies Personen, die in der Kindheit durch
Schicksalsschläge oder durch belastete Eltern ein Stück aus ihrer Kindheit
gerissen wurden und früh erwachsen werden mussten. Wenn die kindliche Seele
zu wenig Raum hatte, unbeschwert von den Sorgen der Erwachsenen sich zu
entwickeln, versucht man nicht selten, sich seine Daseinsberechtigung durch
übergroße Leistungen im Erwachsenenalter zu „verdienen“ und bemüht sich
wahrgenommen zu werden, wo man mit den Bedürfnissen der Kinderzeit nicht
wahrgenommen wurde. Zudem wurden Gefühle gerade bei religiös orientierten
Menschen eingeteilt in gute und böse, in akzeptable und sündhafte. Deshalb
haben viele Menschen heute noch Angst vor dem, was in ihnen lebendig ist. Man
lehrte uns zu glauben, wer Zorn in sich spüre, habe etwas Böses in sich. Aber
nicht nur moralisch bewertete Gefühle aggressiver Art können einem Angst vor
sich selbst machen, auch ein übermächtiger Trauerschmerz oder eine lähmende
Schuld kann dazu führen, dass man die Flucht ergreift vor dem eigenen Inneren
und damit vor sich selbst. Aber wer in sich selbst nicht recht zu Hause ist,
der ist auf Dauer nirgendwo recht zu Hause. In diesem Zusammenhang ist christliche Spiritualität
wesentlich das Einüben „in sich selbst zu wohnen“ und so sich selbst mit der
Gegensätzlichkeit und Vielfalt der eigenen Gefühle und der in einem
aufsteigenden inneren Bilder und Gedanken anzunehmen: Ich gestehe mir innerlich ein: „Ich habe jetzt Angst“
oder „ich habe eine Wahnsinnswut gegen diesen Menschen“ oder „ich spüre eine
starke Zuneigung zu jenem Menschen“. => Dann gibt es
den seelischen Raum im Herzen von Mitmenschen,
deren Wertschätzung und Freundschaft uns wichtig sind. Denn wir Menschen
„hören nicht an unserer Haut auf“; wir existieren auch ein Stück in den
Seelen, in den Gedanken und Gefühlen von Mitmenschen, mit denen wir uns
innerlich verbunden wissen. Ob es dort einen Ort des Wohlwollens und der
Achtung für uns gibt, prägt entscheidend unser Lebensgefühl, unsere
Zufriedenheit und unser Glücksempfinden. Die Angst vor dem bewertenden und abwertenden Denken und
Reden der Mitmenschen kann unser Gefängnis werden. „Was würden denn die Leute
denken?“ Dieser Satz lähmt schon unser Denken und Handeln, bevor wir „die
Leute“ gefragt haben, was sie tatsächlich denken. Im Gegensatz zur Botschaft Jesu, in der es heißt „urteilt
nicht“, haben gerade gläubige Menschen spätestens bei der Beichtvorbereitung
mit acht oder neun Jahren geübt, sich selbst und dadurch auch andere ständig
zu bewerten. Jedenfalls ist das bewertende Denken bei vielen Gläubigen wie
auch die Angst davor, von anderen bewertet zu werden, oft sehr ausgeprägt. Wo wir ein Versagen höchstens dem
Pfarrer beichten, aber nicht auch miteinander über Schuld, über Angst, über
Niederlagen und Enttäuschungen, ja auch über Glaubenszweifel und
Glaubenserfahrungen reden können, treiben wir ein gefährliches Versteckspiel,
treiben wir nicht nur zur Faschingszeit, sondern das ganze Jahr hindurch
einen Maskenball, der uns in einer Einsamkeit belässt, in der dann vermehrt
Glaubenszweifel, Misstrauen gegenüber Mitmenschen, Neid und Eifersucht
wachsen können. Die gesellschaftliche Welt mit ihrem beruflichen Stress,
mit ihren politischen Machtspielen, mit ihren Eifersüchteleien um
öffentliches Ansehen braucht keine Verdoppelung in einem unerlösten Umgang
von Christen. Solche Unerlöstheit demonstrieren
wir, wenn wir nicht erlebt und nicht gelernt haben, uns ein Stück mit unseren
persönlichen seelischen Erfahrungen einander mitzuteilen und einander
anzuvertrauen. Aber die Angst voreinander lässt sich nur abbauen, wenn
wir uns um eine grundsätzliche Wertschätzung und Achtung untereinander
bemühen, wenn wir uns gegenseitig einen Vorschuss an Vertrauen gewähren, der
nicht bei jeder Meinungsverschiedenheit oder bei jeder kleinen Enttäuschung
gleich aufgebraucht ist. Weil Gott Ja gesagt hat zu jedem von
uns in seiner individuellen Eigenart und Einmaligkeit, weil wir von ihm
angenommen sind auch in unseren sündhaften Verstrickungen, weil wir in den
Augen Gottes liebenswert, ja „selig“ gepriesen sind in unserer menschlichen
Armseligkeit, weil wir nicht ständig um unsere Daseinsberechtigung und
Liebens-„Würdigkeit“ kämpfen müssen, deshalb können wir auch barmherzig,
ehrlich und unbeschwert miteinander umgehen. => Des Weiteren
gibt es auch den seelischen Raum in der äußeren Welt. Wenn Menschen starke, belastende Gefühle nicht ausdrücken
können, droht es sie innerlich zu erdrücken. Manche musikalisch begabten
Menschen haben in der Kindheit einen schlimmen Verlust erlebt; dass z.B. ein
Elternteil und eines der Geschwister gestorben ist. Wer als Erwachsener in kreativer, seelisch
ausdrucksstarker Weise für seine Gefühle einen „Kanal“ findet, sie „zur Welt
kommen“ zu lassen, kann damit einen Weg der Versöhnung mit dem Leben und eine
Lösung seelischer Ängste finden. Manche schreiben Gedichte oder beginnen zu
malen, andere basteln oder gestalten regelmäßig den Kirchenraum oder züchten
zu Hause im Garten Rosen oder engagieren sich beim Tierschutz. Die Welt um
einen her gestalten und erleben als Entfaltungsraum der eigenen seelischen
Kräfte, schafft Raum auch im Inneren der Seele und kann verbinden mit den
Menschen und mit Gott. => Auch in Gott
gibt es einen seelischen Raum für uns Menschen. Angst machende, einschüchternde und entmündigende
Gottesbilder haben lange Zeit für viele Gläubige das Bewusstsein dafür
blockiert. Aber der liebende Gott, den uns Jesus geoffenbart hat, hat „ein
Herz“ für uns Menschen. Der barm-„herz“-ige Gott
hat viel inneren Raum für unsere menschlichen Eigenheiten, für unsere
Schwächen und Fehler. Wenn wir als Ganzes von ihm geliebt und angenommen
sind, wenn wir uns von ihm anschauen lassen, wie von den Augen einer guten
Mutter oder eines guten Vaters, dann brauchen wir uns nicht zu verstecken vor
ihm und nicht vor uns selbst. Dann können wir uns selbst anschauen lernen und
immer mehr an Eigenheiten – im positiven wie im
negativen Sinne - in uns entdecken und uns langsam immer besser verstehen und
uns annehmen, so wie wir sind. Wer sich selbst tiefer kennt und sich umfassend
geliebt erlebt, der kann auch barmherzig und mit einem großen Vorschuss an
Wertschätzung seine Mitmenschen betrachten und behandeln. Konsequenzen: =>
Was gibt es in unserer Pfarrei an Möglichkeiten, die Selbstwahrnehmen und
Selbsterfahrung zu fördern (Meditation, Stille im Gottesdienst, Autogenes
Training, Joga und ähnliches) Werden in den Gebeten, in der Verkündigung, in den
sonstigen Texten die Bedeutung des „In sich zuhause sein“ angesprochen und
bewusst gemacht? =>
Wird das übliche bewertende Denken und Reden übereinander immer wieder als
„Sünde“ im Bußakt und in Bußgottesdiensten als
Gefährdung des Lebens der Gemeinde angesprochen und Gottes Hilfe erfleht? Wird im Gespräch im PGR das Sich-mitteilen eingeübt und
gepflegt und darauf geachtet, dass man nicht über andere spricht, sondern mit
ihnen ins Gespräch zu kommen versucht? =>
Werden in unserer Pfarrei die kreativen Fähigkeiten gefördert und die
vorhandenen kreativen Leistungen gewürdigt? Werden kreative Menschen, auch
solche, die manchmal etwas „eigen“ sind, in das Pfarrleben integriert? =>
Werden die Menschen, die sehr belastende Gottesbilder kennen gelernt haben
und deshalb dem Glauben oder der Kirche oder bestimmten Traditionen in der
Kirche sehr skeptisch gegenüber stehen, ernst genommen? Werden die Gebete und
Texte, die im Gottesdienst Verwendung finden (auch die biblischen Texte),
aber problematische Gottesbilder enthalten, in ehrlicher und kritischer Weise
zur Sprache gebracht? =>
Sagen wir klar genug, was uns seelisch „nichts bringt“, aber auch, was wir
bräuchten, welche Fragen, Probleme und Zweifel wir haben und was wir ersehnen
und erhoffen? =>
Sind wir auch gegenüber der Kirche ehrliche, unerbittlich kompromisslose
Gottsucher auf dem Hintergrund unseres modernen Wissens von der Welt und der
Seele des Menschen? Manfred Hanglberger Pfarrer und Familientherapeut Dieser Artikel erschien in
„MISSIO-konkret“, Nr.1/2002 Link
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