Predigt zum Weihnachtsfest
Liebe Schwestern und Brüder im Glauben,
„Heute ist Euch der Retter geboren, der Messias,
der Herr.“
So hat es uns gerade der Engel verkündet.
Aber brauchen wir einen Retter?
Viele Banken der Welt brauchten vor wenigen
Jahren einen Retter
und manche Konzerne, denen eine Insolvenz droht,
suchen nach einem Retter.
Ein guter Retter muss manchmal Milliarden an
Euro oder Dollar locker machen können,
damit er als Retter gelten kann.
Die Menschen in Israel flehten in verschiedenen
Jahrhunderten der Geschichte ihres Volkes um einen Retter und erwarteten
einen militärisch starken Herrscher, der einen übermächtigen politischen
Feind in die Schranken weisen und vertreiben könnte.
Sie erwarteten politische und wirtschaftliche
Freiheit und Schutz vor kultureller Bevormundung.
Aber erwarten wir als schlichte Bürger einer
freiheitlich demokratischen und wirtschaftlich überdurchschnittlich
abgesicherten Kultur einen Retter?
Fiebern wir sehnsüchtig nach Unterstützung und
Hilfe durch eine Retterpersönlichkeit?
Wie können wir im 21. Jahrhundert ein kleines Kind,
das vor circa 2.000 Jahren am östlichen Rand des Römischen Reiches in einer
Futtergrippe zur Welt kam, als Retter feiern?
Oder geht es uns heute nur um Weihnachtslieder,
die uns eine rührende Stimmung versetzen? Oder geht es vielleicht doch
darum, unsere Herzen heute weiter zu öffnen,
als an anderen Tagen des Jahres?
Damit heute unsere Sehnsucht nach liebevollen
menschlichen Beziehungen und nach einer gerechteren und friedvolleren Welt
stärker wach wird als sonst?
Ist es das Kind in der Krippe, das uns mit
seinem unbeschwerten Vertrauen ins Leben einlädt, daran zu glauben, dass
das Leben lebenswert ist,
dass das Leben zutiefst etwas Sinnvolles und
Wertvolles ist?
Feiern wir eine Heilige Nacht, um anzukämpfen
gegen die unheiligen Nächte dieser Welt?
War es nicht auch eine unheilige Nacht vor 2.000
Jahren, in der einfache Menschen als Spielball der Mächtigen von Nazareth
nach Betlehem gehetzt wurden,
eine unheilige Nacht, in der Menschen nach
Unterkunft suchten,
aber keine Aufnahme fanden.
Eine unheilige Nacht, in der Wohlsituierte kein
Gespür für die Armen hatten.
Die unheilige Nacht wird zur Heiligen Nacht,
wenn Menschen in der Erfahrung von Verlassenheit
und Hilflosigkeit spüren,
dass sie füreinander da sind und zusammen halten,
auch wenn die äußeren Umstände bedrückend sind,
wenn sie nicht ihre Enttäuschungen und
Verletzungen am anderen abreagieren und sich nicht gegenseitig das Leben
mit Geschimpfe und Vorwürfen verdunkeln.
Die unheilige Nacht wird zur Heiligen Nacht,
wo Menschen ihre eigene Dunkelheit, ihre
Belastungen
und Ausweglosigkeiten zu Gott hin tragen
und von ihm her eine tiefe Daseinsberechtigung,
ein umfassendes Ja zu ihrem Leben,
das wärmende Licht eines inneren Friedens
finden,
so dass sie den Blick füreinander und die Güte
bewahren können.
Die Futterkrippe, von der im
Weihnachtsevangelium die Rede ist,
deutet sie nicht an, dass Gott, der in diesem
kleinen Kind sich zeigen will,
sich uns zeigen will,
dass dieser Gott der Welt der Geschöpfe, dem
Atem der Tiere und ihren Bedürfnissen ähnlich nahe ist, wie den Sehnsüchten
des menschlichen Herzens?
Muss der Mensch vor der Arroganz seines Geistes
gerettet werden?
Von der Arroganz, die ihn immer wieder verführt,
sich über alle anderen zu stellen:
über die Elemente der Natur, über die Tiere, über seine Mitmenschen, über
andere Kulturen und Religionen?
Muss der Mensch von der Arroganz befreit werden,
die in dazu verleitet,
Geld und andere materielle Güter für wichtiger und wertvoller zu halten,
als das, was ihn seelisch mit anderen Menschen verbindet?
Hat nicht gerade die reichste
Bevölkerungsschicht der Völker der Erde die ganze Menschheit in eine
ungeheure ökologische Krise gestürzt?
Muss der Mensch von der Arroganz seines Geistes
befreit und gerettet werden,
die ihn dazu verführt, die Welt total zu beherrschen, zu unterjochen und
auszubeuten,
die ihn verführt, den Ast, auf dem er sitzt, selbst abzuschneiden?
Kann die Heilige Nacht, kann das Kind in der
Futterkrippe unseren vielfältigen Lebenshunger wieder in die rechte Ordnung
der Werte führen?
Dass in unserer Selbstliebe, in unseren
Bemühungen um die eigenen Interessen,
die Nächstenliebe nicht abstirbt,
dass in den zwischenmenschlichen Enttäuschungen
und Verletzungen unsere Herzen nicht hart werden und verschlossen,
dass unser Glaube an die Liebe und an das, was
uns innerlich in Freude miteinander verbindet, nicht zugrunde geht.
Dass nicht Angst und Misstrauen in unserem
alltäglichen Miteinander übermächtig werden,
dass nicht Terror und Einschüchterung die
Atmosphäre in dieser Welt zu beherrschen beginnt.
Die Menschheit ist verloren, die Menschheit ist
der puren Vergänglichkeit verfallen,
wenn sie sich nur an materiellen Werten
festklammert
und der Egoismus zum Kampf aller gegen alle
entartet -
oder wenn religiöser Fanatismus Gott zu einem Monster der Intoleranz werden
lässt.
Der Retter der Menschheit kommt nicht mit
Milliarden Euro oder Dollar,
er kommt nicht mit militärischer oder
politischer Macht,
aber er vermag die Herzen jener anzurühren und
zu verwandeln,
die ihre Sehnsucht nach gegenseitigem Verstehen,
nach gegenseitigem Wohlwollen und Solidarität
noch nicht aufgegeben haben.
Er vermag die Gedanken von Politikern
anzurühren, damit diese der Willkür der Mächtigen und fanatischer Ideologen
Grenzen setzen und der Gier mancher Reicher Einhalt gebieten -
um die einfachen Leuten, vor allem die Schwachen und Hilfslosen zu
schützen.
Der Retter der Welt ist der Retter des Glaubens
an Liebe und Menschlichkeit,
der Retter des Glaubens an Gerechtigkeit und
Frieden.
Ihm wollen wir heute unsere Herzen öffnen,
ihn wollen wir hinein wirken lassen in unsere
Seelen,
damit wir Täter der Gerechtigkeit und des Friedens werden.
Amen.
Manfred Hanglberger (www.hanglberger-manfred.de)
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