Lorenz Zellner

 

Selbstaufgabe für Gott? Eine gefährliche Idee!

Überlegungen zur Problematik der „Prüfung Abrahams“ (Gen 22)

 

(S. 141-150 im Buch „Ich bin auf den Grund gegangen – aber nicht zugrunde“)

 

 

Inhalt

 

 

Die Frage ist nicht, ob Religion oder nicht, sondern welche Art von Religion         2

Abraham im Visier                                                                                                     3

Abraham – Vorbild im Glauben?                                                                               5

Peinlich und schauderhaft – Vier Beispiele dazu                                                       6

Abraham bei Bert Hellinger                                                                                       7

Wir müssen neue Geschichten erzählen!                                                                    9

Theologen und Psychologen: Neue Formen der Zusammenarbeit                           10

 

Anmerkungen                                                                                                            11

 

 

 

 

Zu weiteren Artikeln aus demselben Buch >>>

 

Kostenloser Download des vollständigen Buches
„Ich bin auf den Grund gegangen – aber nicht zugrunde“
von Lorenz Zellner (PDF)
>>>

 

Bestellmöglichkeit der Druckfassung des Buches von Lorenz Zellner
beim Verlag epubli GmbH, Berlin: www.epubli.de
>>>

Über den allgemeinen Buchhandel: ISBN: 978-3-8442-7673-2

 

Pfad zum Teilen:

https://hanglberger-manfred.de/zellner-auf-den-grund-gegangen-abraham-htm.htm

 

 

 

 

 

 

Die Frage ist nicht, ob Religion oder nicht, sondern welche Art von Religion?

 

Im therapeutischen Alltag kann man mit qualifizierter Aufstellungsarbeit relativ schnell mit grundlegenden menschlichen Prozessen in Verbindung kommen. In Familienaufstellungen erleben wir zum Beispiel sehr intensiv die Art unseres „Eingebundensein in den tieferen Zusammenhang einer Familie“ und kommen mit „grundlegenden menschlichen Prozessen in Verbindung“ (1). Man gelangt sehr bald zum Wesentlichen. Wir erleben unsere Seele.

Aufstellungen reichen aber noch viel weiter. Man kann auch Organisationen und Unternehmen aufstellen. Man kann Aufstellungen zum Beispiel auch dazu benutzen, „um die Wirkungen gefährlicher Ideen auf menschliche Systeme zu erkunden“ (2), wie es Hunter Beaumont formuliert hat. Das hieße dann, nicht nur Überzeugungen einer individuellen Familienideologie, -philosophie oder -theologie, sondern auch Inhalte der großen „frommen Denkungsarten“, der Religionen oder der Theologien der Kirchen hervorzuholen, deren Gehalte zur Aufstellung zu bringen, ihre Wirkungen offen zu legen und so zu einer eventuellen Revision der jeweiligen kleineren oder größeren Theologien, Philosophien oder Ideologien beizutragen.

 

Ich beobachte als Theologe und therapeutischer Berater schon lange aufmerksam die Schnittstellen von Therapie und Theologie bzw. Religion. Ich weiß, dass die therapeutische Fachwelt längst akzeptiert hat, dass Religionen, religiöse Gestalten, religiöse Geschichten, Texte und Rituale, religiöse Bindungen, theologische Konzepte und individuelle Religiosität als allgemein wahrgenommene Fakten des Lebens bzw. als anthropologische Grundkonstanten des Menschen und menschlicher Gesellschaften ihre Geltung haben und Aufmerksamkeit beanspruchen dürfen, ja müssen. In der Bezugnahme auf religiös einzuordnende Fakten und Konstanten besteht der allgemeine Konsens unter Therapeuten immer noch darin, wie es Erich Fromm in seinem Buch „Psychoanalysis and Religion“ bereits 1950 formuliert hat: „Die Frage lautet nicht, ob Religion oder nicht?, sondern welche Art von Religion? Fördert sie die Entwicklung des Menschen, die Entfaltung der spezifisch menschlichen Kräfte, oder lähmt sie die Kräfte“ (3).

 

Im allgemeinen wird also in der Fachwelt ganz pragmatisch je nach Faktenlage entschieden, ob religiöse Überzeugungen, Prägungen oder Praktiken eher zu den persönlichen bzw. kontextuellen Ressourcen oder eher zu den behandlungsbedürftigen Hindernissen für Lebensgestaltung, Entwicklung, Wachstum, therapeutische Prozesse, psychische Hygiene, Salutogenese, Resilienz usw. zu zählen sind (4). Ideologisch determinierte Ausnahmen wird es natürlich in der Fachwelt immer geben, genauso wie Abstinenzverletzungen. Auch erhebende oder niederschmetternde persönliche Erfahrungen werden immer wieder bewirken, dass der Blick auf gegenteilige Sichtweisen oder eine genauere Differenzierung verschlossen bleibt.

 

Abraham im Visier

 

So ist meiner Aufmerksamkeit auch ein Bericht in der Fachzeitschrift „praxis der systemaufstellung 2/2011“ nicht entgangen, der eine interessante Aufstellungsarbeit dokumentiert. Im Rahmen des 2. Eurasischen Kongresses für Systemaufstellungen im September 2011 in Moskau wurde im Workshop „Das Blut der Urahnen schlägt in meinem Herzen“ eine Aufstellung durchgeführt, die zum Ziel hatte, im Aufstellungsgeschehen dem Urvater Abraham zu begegnen. Ein angesehener Rabbi hat dazu den oben erwähnten Bericht verfasst (5). Ich habe in „praxis der systemaufstellung 1/2012“ dazu eine Stellungnahme abgegeben, die ich hier reduziert auf unser Thema „Gefährliche Ideen“ wiedergebe (6). Ich lasse den Bezug auf die konkrete Arbeit in Moskau und die sich daraus ergebenden fachspezifischen Fragen beiseite und stelle nur grundsätzliche inhaltliche Erwägungen an, die sich mit der gefährlichen Idee „Äußerste Selbstaufgabe“ beschäftigen, die aus der grenzenlosen Liebe zum Schöpfer kommend als Charakteristikum Abrahams im Mittelpunkt des Moskauer Workshops stand.

 

Abraham interessierte mich schon immer. Ich bin immer wach, wenn bestimmte religiöse Gestalten in den Fokus gestellt werden. Dazu gehört zuvorderst auch die aus der religiösen Landschaft der monotheistischen Religionen herausragende Figur des Abraham, dazu gehören die Geschichten, die um ihn ranken, dazu gehört das Gedankengut, das über seine Person auch durch die christliche Religionsgeschichte transportiert wird.

 

Meine Einlassungen in meiner Stellungnahme bezogen sich auf zwei Punkte: Einmal auf die dargestellten Hauptaspekte des „ersten und ranghöchsten der Urahnen“ der jüdischen Menschen und des Urahnen „für eine Anzahl nicht jüdischer Nationen“ (7). Die Abraham zugeschriebenen Aspekte „Urvater“, „grenzenlose Liebe zum Schöpfer“ und „äußerste Selbstaufgabe“, um dem Willen seines Schöpfers „gerecht zu werden“ (8), wurden von mir in meiner Stellungnahme als zu inhaltsleer für eine Aufstellung deklariert. Ich habe Fragen gestellt wie: Was bringen solche Balken und Begriffe aus der theologischen Rezeption Abrahams an Information, Weisheit und Dynamik in eine Aufstellung? Sind das nicht eher plakative Worthülsen und blutleere Schablonen, die Abraham relativ abstrakt und materiell „ausgeräumt“ definieren! Dabei ist mit Abraham doch eine ganz konkrete Denk-, Bewertungs- und Verhaltenswelt durch die Geschichte der Menschheit transportiert worden – und diese Welt lebt in den Abrahamskindern aller drei monotheistischen Religionen, in seinen physischen und noch mehr geistigen Nachkommen, in den alten immer wieder erzählten Geschichten und Riten, in der Neujahrfeier der Juden, im Bairamfest der Muslime und in der christlichen Osternacht unreflektiert weiter.

 

Ich komme also mit den angegebenen Verdiensten und Tugenden Abrahams nicht so recht weiter: mit den Begriffen „grenzenlose Liebe zum Schöpfer“ und „äußerste Selbstaufgabe“, um „dem Willen“ des Schöpfers „gerecht zu werden“. Für eine mögliche Aufstellung fehlt mir auch hier das „Material“. Mir fehlt die Anschaulichkeit, d.h. mir fehlen eine Situation, ein Vorgang, ein Prozess, ein Kontext, ein konkreter Inhalt. Was wirklich gemeint ist, muss erst entziffert werden. Man beachte zudem die Sprache bzw. die Wortwahl: Was heißt „grenzenlos“, wo wir Menschen doch so begrenzt sind, oder was bedeutet „Selbstaufgabe“, wo wir doch in meinem religiösen Verständnis primär Gottes „Ausgabe“ sind? Was soll diese Begriffswelt? Wer hat sie je ernsthaft reflektiert? Was bleibt denn von uns Gottesgeschöpfen noch übrig, wenn wir - kaum in der Welt angekommen - uns selber wieder aufgeben und verabschieden sollen? Ist nicht die erste Aufgabe von uns Menschen das Nehmen, das Nehmen dessen, was wir als Geschenk bekommen haben. Die Charakterisierung Abrahams benützt hier schizophrenieverdächtige, um nicht zu sagen schizophreniefördernde Formulierungen (9). Sie erscheinen mir außerdem in ihrem Gehalt blutleer und floskelhaft, während mir - und nicht nur mir - bei der Geschichte von der Opferung des Isaak in der Thora oder in der christlichen Bibel oder von der Opferung des Ismael im Koran das Herz blutet.

 

Damit bin ich bei der Geschichte angelangt, die zu Abraham gehört. Diese Geschichte ist Abraham. Das ist die Geschichte, die wie keine andere Geschichte gemacht hat, die am geschichtsträchtigsten geworden ist. Das ist die Geschichte, die erklärt, was „äußerste Selbstaufgabe“ bedeutet, die die Idee der „äußersten Selbstaufgabe“ auf die Spitze treibt. Eine verrückte, eine brandgefährliche Geschichte, die nachhaltigste, vielleicht die folgenschwerste religiöse Geschichte überhaupt. Ja, die Opferung des Isaak ist wegen des Inhalts und der Rezeptions- und Wirkungsgeschichte absolut die Geschichte mit der größten Resonanz, mit der stärksten Aufmerksamkeit und mit den weitreichendsten Folgen – und dies in der ganzen monotheistischen Religionsgeschichte. Diese Geschichte lässt sogar das Auserwählungsthema und die typologische Ausweitung der Abraham-Isaak-Geschichte auf das Schicksal Jesu hinter sich. Noch einmal: In dieser unfassbaren Geschichte ist für mich der wahre Abraham gegenwärtig. So will ich auch darauf verzichten, so sehr es mich auch drängt, auf das gefährliche Spiel schon der neutestamentlichen Theologie und einer Reihe von Kirchenvätern einzugehen, nämlich die Abraham-Isaak-Geschichte typologisch auf das Geschehen um Jesu Tod zu beziehen, wenn u.a. Jesus in Parallele zu Isaak gesetzt wird, weil er ähnlich wie Isaak und der Gottesknecht des Jesaja (Jes 53,7) gegen „Gottes Willen“ „seinen Mund nicht auftat“. Ich konzentriere mich also nur auf die Top-Geschichte in Gen 22,1-14.

 

Abraham – Vorbild im Glauben?

 

Abraham wird immer an diese Geschichte von der Opferung des Isaak gefesselt bleiben. Sie wird auch hoch gehandelt. Sie steht im Judentum im Mittelpunkt des Rosch ha-Schana, des jüdischen Neujahrsfestes, und im Hintergrund des Schofarblasens. Nachzulesen ist sie im 1. Buch Moses. Im Islam füllt die gleiche Geschichte das Opferfest Bairam inhaltlich aus. Im Koran findet sie sich in der 37. Sure, allerdings ist hier Abrahams erster Sohn Ismael für die Opferung auserwählt. Und im Christentum steht der Text aus dem Buch Genesis (Gen 22, 1-14) mit seiner unheimlichen Dramatik als zentrale Lesung der Osternacht im Raum. Abraham kommt von dieser Geschichte nicht los. Sie läuft mit ihm mit und läuft ihm immer nach: Für die einen als maximaler Ausdruck des Glaubens und der Hingabe an Gott, für die anderen aber als eine der peinlichsten Geschichten der monotheistischen Religionen. Auf jeden Fall gut genug, um über Jahrhunderte ein Heer von Theologen und Exegeten in Erklärungsnot zu bringen, die sich die Zähne ausbeißen mussten, um der dunklen Geschichte doch noch etwas Sinnvolles abzugewinnen. Dagegen steht für Menschen, die die „Kunst, gut zu lesen“ (Wortwahl Friedrich Nietzsche) beherrschen, der Abraham dieser Geschichte für eine ganz gefährliche Lebensweise. Er steht für den Versuch und für die Versuchung sowie für das Erliegen der Versuchung, bedenken- und widerstandslos menschliches Leben anzutasten, über menschliches Leben in der Gestalt des eigenen Sohnes zu verfügen. Nicht nur der Versuch der Tötung ist hier nach weitläufiger Meinung strafbar, schon die Annahme einer mörderischen Anordnung ist verrückt. So sieht es heute unser Lebensgefühl und unser ethisches Bewusstsein. Wie kann man derart sein Denken ausschalten und seine vitalsten Gefühle unterdrücken! Die in der Thora bzw. im Buch Genesis vorliegende kritische und korrigierende Zweit-Stimme von außen, die Stimme des Engels ändert hier auch nichts mehr. Abraham wirkt fremd gesteuert, erscheint ohne Substanz, verhält sich wie ein Mensch ohne Menschlichkeit, lässt sich zur Testfigur eines Gott-Götzen oder eines Götzen-Gottes machen, der ihn an der Nase herumführt und zum Narren hält … Menschen, die sich so verhalten, warten oft vergebens auf einen Engel. Sie schneiden sich von allen guten Geistern ab!

 

Für mich ist Abraham alles andere als ein Vorbild. Er ist weder ein Vorbild für die grundsätzliche Gleichheit aller Menschen noch ein Vorbild für die grundsätzliche Unantastbarkeit des Lebens. Er ist kein Prototyp für ein Menschsein, das man bedenkenlos „nachbauen“ kann. Auch die Charakterisierung „Abraham als Ressource“ für die Verwirklichung der Aufgaben des Lebens ist im Zusammenhang mit der Opferung des Isaak unhaltbar. Man kann Abraham vielleicht als Archetypen, als Urfigur für ein über Jahrhunderte durchgezogenes defizitäres, vielfach unkritisch hingenommenes und wiederum auch aus guten Gründen gepflegtes kollektives Bewusstsein und strategisches Verhalten ansehen, für etwas irrational Gewordenes und jetzt immer noch in einer sehr suspekten Form individuell und gesellschaftlich Anwesendes - aber keinesfalls als Grundmuster für eine Liebe zu einer natürlichen gottgegebenen Wirklichkeit – von einer authentischen Liebe zum Schöpfer dieser Wirklichkeit ganz zu schweigen. Natürlich höre ich jetzt von theologischen Kollegen: Man darf solche Texte und Ideen nicht aus dem historischen oder kulturellen Zusammenhang reißen. Mein Gegenargument lautet: Man darf sie dann aber auch nicht als Ansage und Vorschlag für eine moderne Zeit- und Lebensgestaltung ausgeben bzw. normgebend in den Kontext einer Gegenwart stellen, in der inzwischen Menschenrechte formuliert sind.

 

Peinlich und schauderhaft – Vier Beispiele dazu

 

Wie verrückt (und peinlich) die Geschichte in Gen 22, 1-14 ist, zeige ich an vier Beispielen:

 

- In einem Bibliodrama mit dem Inhalt der Opferung des Isaak, das ich vor einigen Jahren anleitete, empfängt eine erzürnte Sara - dargestellt von der Wirtschaftsstudentin Sabine - ihren Mann Abraham und den gemeinsamen Sohn Isaak, die tagelang ohne Begründung verschwunden waren. Fordernd schreit Sara den heranschleichenden Mann an: „Ich möchte wissen, wo ihr euch die letzten Tage herumgetrieben habt? Mich geht das wohl nichts an?“ Sara ist stinksauer und kotzt sich so richtig aus. Abraham versucht mit allen Mitteln, abzulenken und sich herauszureden. Doch Sara ist unerbittlich. Schließlich rückt Abraham mit der Wahrheit heraus, und erzählt, was ihm Gott zugemutet hatte und wie die Geschichte ausgegangen war. Sara schreit darauf wie eine Wilde und lässt ihrer ganzen Erschütterung freien Lauf, deren dramatischer Höhepunkt in einer verzweifelten Feststellung, aber korrekten Diagnose mündet: „Du spinnst!“

 

- Im Midrasch, einer Sammlung von Auslegungen der Thora, findet man ganz unerwartet und unvorbereitet eine unüberbietbar kritische Stelle, die den Text im Buch Genesis 22 weiterführt. Hier endet die ganze Sache sogar tödlich. Und das hört sich so an: Die Mutter Sara erfährt von ihrem Sohn Isaak, dass der Vater Abraham ihn ohne das Eingreifen eines Engels geschlachtet hätte. Darauf soll Sara sechs Schreie ausgestoßen haben und auf der Stelle gestorben sein (9).

 

- Der evangelische Studentenpfarrer Christof Hardmeier konnte sich vor einem intelligenten Publikum bei seiner Predigt in einem Semesterabschlussgottesdienst in Greifswald nur so aus der Affäre ziehen, dass er bei zunächst viel Wohlwollen Genesis 22 gegenüber dann doch gegen den Text predigend am Beispiel Abraham vor religiöser Betriebsblindheit, Tunnelblick, Kadavergehorsam und Verblendung warnte, vor Verhaltensweisen also, die nicht einmal Halt machten vor dem Leben des eigenen Sohnes. „Die Bretter in unserem Kopf sind hart“, so Hardmeier. Verblendung, predigte er, sei auch heute noch eine alltägliche lebensbedrohliche Versuchung für Glaubende (10).

Am eindrucksvollsten werden Texte und Geschichten in Aufstellungen „entwickelt“ bzw. „entbunden“. Aufstellungen sind eine großartige Möglichkeit, biblische Figuren, ihr Denken und Handeln sehr persönlich kennenzulernen. Sie dienen dem Verständnis und der Analyse der Charaktereigenschaften, der Ethik, der Logik, der Werte und Absichten der jeweiligen Figuren und unter anderem auch der „Prüfung der Kohärenz der Geschichte“ (11) und der Stringenz der Handlungsabläufe. 2012 habe ich für die Hauptfiguren von Gen 22,1-14 - also für Gott, für Abraham und für Isaak - drei Personen als Repräsentanten ausgewählt und in den Raum gestellt. Ich berichte hier nur über das Zusammentreffen der drei Personen mit Sara, der Frau des Abraham. Sara war in der Aufstellung klar als Sara benannt. Sie kannte aber die Identität der drei anderen männlichen Repräsentanten nicht. Nun passierte Folgendes: Gott interessierte sich sofort für Sara, fixierte sie, ging auf sie zu und verfolgte sie. Sara hatte auch nur Gott im Blick, bekam kurzfristig Angst, wich vor Gott zurück, fasste sich dann aber schnell und ging mit großer Power und einer unbändigen Wut wie eine Hyäne auf Gott zu, trieb ihn aus dem Aufstellungskreis hinaus, ging ihm an die Gurgel und schrie ihn an: „Dich bring ich um“. Abraham und Isaak blieben Nebenfiguren, ebenso der Engel, den Gott zur Rettung Isaaks geschickt hatte und den ich ebenfalls in die Aufstellung herein nahm. Er zog sich aber schnell aus der Aufstellung zurück und begründete seinen Rückzug damit, er sei hier eine „lächerliche Figur“, seine Rolle sei „lächerlich“, er wolle hier nicht mitmachen.

 

Abraham bei Bert Hellinger 

 

Ich habe lange mit Bert Hellinger gewartet. Hellinger hat auch eine Geschichte über Abraham geschrieben. Hier geht es auch um die Opferung des Isaak. In dieser Geschichte hat der Theologe und Therapeut Hellinger einen Rahmen gesetzt, an dem meines Erachtens kein Theologe und kein Therapeut mehr vorbei kann. Ein tief greifendes Erlebnis war für mich ein Seminar mit Hellinger, wo ich zum ersten Mal die klare Stimme des „Hellinger`schen“ Abraham hörte, der Gott ins Angesicht sagte: „Ich tu das nicht“! – und wo anschließend die berühmten ergreifenden Fragen von Hellinger kamen, wer da so oder so wen wie anschaut. Welche Begabung von Hellinger, solche Grundlagen für eine Lebensgestaltung zu finden und zu formulieren. Der Inhalt der Geschichte – sie steht immer noch sowohl in „Zweierlei Glück“ (12) als auch in weiteren Veröffentlichungen unter der Überschrift „Die Liebe“ – spricht für sich und lässt einen so schnell nicht mehr los.

 

 

Die Liebe

 

Einem Mann träumte in der Nacht, er habe die Stimme Gottes gehört, die ihm sagte: „Steh auf, nimm deinen Sohn, deinen einzigen geliebten, führe ihn auf den Berg, den ich dir zeigen werde, und bringe ihn mir dort zum Schlachtopfer dar.“

Am Morgen stand der Mann auf, schaute seinen Sohn an, seinen einzigen geliebten, schaute seine Frau an, die Mutter des Kindes, schaute seinen Gott an. Er nahm das Kind, führte es auf den Berg, baute einen Altar, band ihm die Hände, zog das Messer und wollte es schlachten. Doch dann hörte er noch eine andere Stimme und er schlachtete, statt des Sohnes ein Schaf.

Wie schaut der Sohn den Vater an?

Wie der Vater den Sohn?

Wie die Frau den Mann?

Wie der Mann die Frau?

Wie schauen sie Gott an?

Und wie schaut Gott - wenn es ihn gibt – sie an?

 

Noch einem anderen Mann träumte in der Nacht, er habe die Stimme Gottes gehört, die ihm sagte: „Steh auf, nimm deinen Sohn, deinen einzigen geliebten, führe ihn auf den Berg, den ich dir zeigen werde, und bringe ihn mir dort zum Schlachtopfer dar.“

 

Am Morgen stand der Mann auf, schaute seinen Sohn an, seinen einzigen geliebten, schaute seine Frau an, die Mutter des Kindes, schaute seinen Gott an. Er gab zur Antwort, ihm ins Angesicht: „Ich tue das nicht!“

Wie schaut der Sohn den Vater an?

Wie der Vater den Sohn?

Wie die Frau den Mann?

Wie der Mann die Frau?

Wie schauen sie Gott an?

Und wie schaut Gott – wenn es ihn gibt – sie an?

 

Hellinger wusste mit dieser Geschichte sehr gekonnt umzugehen. Er hat sie vielfach eingesetzt. Er variierte je nach Situation, wo ein Weg anzustoßen war, wo man sich Argumentationen ersparen oder wo man ins Volle vorstoßen konnte. Manchmal ließ er die Wahrheit langsam kommen und ließ Zeit zum Erahnen. Manchmal brachte er aber auch für ganz Hartnäckige den ultimativen Rettungsversuch auf den Tisch. Dieser bestand in einer dritten Variante, die er aber selten erzählte, die durch konkrete Erfahrungen belegt keine Missdeutung der Geschichte und keine wohlwollende Interpretation mehr zulässt und die den vollen Ernst zeigt. Diese dritte Variante lautet:

 

Und einem anderen Mann träumte in der Nacht, er habe die Stimme Gottes gehört und so weiter, und er stand auf, schaute seinen Sohn an und so weiter, führte ihn auf den Berg, baute einen Altar, zog das Messer und schlachtete ihn.

Als er nach Hause kam, brachte er sich um (13).

 

 

Wir müssen neue Geschichten erzählen!

 

Diese dritte Version der Geschichte ist leider immer wieder therapeutische und seelsorgerische Erfahrung. Das Leben wird unerträglich, wenn man nicht Nein sagen, wenn man nicht „ins Angesicht widersprechen“ konnte. Dies gilt in Bezug auf Personen wie auch auf Texte. Vielleicht trägt es in unseren Tagen endlich Frucht, was Friedrich Nietzsche einst der Theologie so eindringlich ans Herz gelegt hat: „Man muss das Verhängnis aus der Nähe gesehen haben, noch besser, man muss es an sich selbst erlebt, man muss an ihm fast zugrunde gegangen sein, um hier keinen Spaß mehr zu verstehen“ (14).

 

Was dagegen den zweiten Teil der Hellingerschen Geschichte „Die Liebe“ betrifft, der einen ganz anderen Abraham präsentiert, könnte man auf jeden Fall von „neuen Geschäftsideen“ sprechen, die Hellinger für Theologen, Psychologen, Pädagogen usw. in genialer Weise entwickelt hat. Wir müssen wirklich neue Geschichten erfinden und erzählen. Und wir müssen sie und die handelnden Personen aufstellen, auf ihre Logik, Ethik oder Haltbarkeit hin ausleuchten – und mit den „alten Geschäftsideen“ und deren Gewährsleuten in Kontakt bringen. Ich finde es immer reizend, wahrzunehmen, wie sich Menschen gegenüber aufgestellten Texten und Geschichten positionieren und verhalten, was sie anspricht, was aneckt, was an Dialogen und Positionen entsteht usw. Ich sehe eine Menge von Aufgaben vor mir. So träume ich vor mich hin und male mir aus: Was wäre beispielsweise passiert, wenn ich in einer Aufstellung dem Thora-Abraham aus der Geschichte der Opferung des Isaak und anschließend dem Hellinger-Abraham begegnet wäre, oder wenn dem Thora-Abraham die wütende Sara, die Brüder Isaak und Ismael, die Wirtschaftsstudentin Sabine, der Studentenpfarrer Christof, der geschlachtete Widder vom Berg der Opferung oder die geschächteten Schafe des Bairam-Festes der Moslem begegnen würden, um nur einige Beispiele zu nennen. Oder wenn beide Abrahame aufeinander träfen! Da käme der wahre Abraham zur Sprache. Da wäre „Materie“, wäre „Welt“ eingeflossen. Welche Unterschiede würde es dann für einen Klienten machen, diesem oder jenem Abraham zu begegnen? Oder für Abraham, diesen oder jenen Klienten zu treffen?

 

Eine gute Frage: Was würde da von Abraham übrig bleiben? Es wäre das Aus des elitären, des besonderen, des auserwählten Menschen, abgehoben, von niemandem kontrolliert, außer von seinem Gott und nur ihm hörig, gottgleich über Leben und Tod und Frauen und Kinder verfügend, es wäre das Aus auch eines armseligen Menschen, ewig angekettet an die mörderische Isaak-Geschichte. Vielleicht würde dann eines deutlich werden, was Insider nachdenklich machen könnte: Die Gestalt des biblischen Abraham ist für das heutige Weltverständnis und die moderne Weltbewältigung wahrlich keine theologische und ebenso keine philosophische Meisterleistung. Wer dies erkennt, ist auf dem Boden der Wirklichkeit und kann ungenervt Seelsorge treiben.

Theologen und Psychologen: Neue Formen der Zusammenarbeit

 

Ich habe meinen Beitrag in „praxis der systemaufstellungen 2/2011“ über „Abraham in Moskau“ mit einem Appell an Psychologinnen und Therapeuten beendet, der so lautete: Bitte, lasst die Religionen, ihre Ideen und Geschichten nicht außer Acht! Ich bin der Meinung: Es ist nur begrüßenswert, wenn sich Psychologie und Therapie auf den Campus der Religionen bzw. ihrer Theologien begeben und umgekehrt. Schön, dass man sich inzwischen gegenseitig mehr wahrnimmt. Man kann sich ja auch aus der Nähe ansehen. Man kann schauen, was die Therapie den Religionen verdanken kann und die Religionen der Therapie. Man kann auch schauen, was der Therapie entgeht, bzw. was den Religionen entgeht, wenn man getrennt agiert. Man kann zum beiderseitigen Nutzen aber auch zusammenarbeiten.

 

Die Religionen könnten sich der Wissenschaft bedienen, um sich gerade über Aufstellungen Außenperspektiven und Metapositionen ihrer Denk- und Verhaltens-weisen bzw. ihrer Strategien zuzulegen. Sie könnten sich stärker nach säkularen Wissenschaften ausrichten, um ihre Systeme aufgabenorientiert zu gestalten oder das Kerngeschäft im Blick zu behalten – gegen alle persönlichen und strukturellen Verliebtheiten, in die soviel Kraft verpulvert wird. Sie könnten ihre zentralen Personen und Vorbilder ausleuchten, ihre Licht- und Schattenseiten erspüren und sie könnten erforschen, wie religiöse Beziehungsgestaltung aussehen könnte. Ein besonderer Reiz dürfte es sein, wenn Religionen oder Kirchen ähnlich wie in Organisationsaufstellungen neue „Geschäftsideen“ entwickeln, ausprobieren und überprüfen – und mit den alten Ideen vergleichen und sich so der einsichtigen Feststellung von Erich Fromm stellen: „Die Frage ist nicht, ob Religion oder nicht! Sondern vielmehr: welche Art von Religion“? (15).

 

Der Dienst der nichttheologischen Wissenschaften hat einstmals - vor 50 Jahren - auf einem Konzil der Kath. Kirche, dem Vaticanum II, eine besondere Würdigung erfahren. Das Dokument „Gaudium et Spes“ (16) bestätigt mit klaren Worten, dass die Kirche der Welt viel „verdankt“. Durch die Wissenschaft, durch die geschichtliche Vergangenheit, durch die Reichtümer der menschlichen Kultur käme nach dieser Konzilsaussage „die Menschennatur immer klarer in Erscheinung“ und es würden „neue Wege zur Wahrheit aufgetan“. Und dann wird es erstaunlicherweise zur Aufgabe des Gottesvolkes erklärt, „auf die verschiedenen Sprachen unserer Zeit zu hören“. Das klingt ja fast prophetisch: Dabei hat vor fast 50 Jahren sicher niemand das allmähliche Auffinden und den Segen der Aufstellungssprache erahnen können.

 

Auch Psychologen, die heute im allgemeinen eine positive Einstellung zum Menschen als einem religiösen Wesen haben, können mit Wachstum fördernden religiösen Ressourcen arbeiten und können bei Klienten ideelle Hindernisse, z.B. destruktive Gottesbilder abbauen, besonders wenn diese auch schon von den Theologen wahrgenommen wurden. Sich mit der Psyche beschäftigende Wissenschaften haben nicht die Aufgabe, zu verkünden oder Religion zu verkaufen. Sie brauchen auch nicht das Glaubensgut „Gott“ vermitteln. Sie können aber beispielsweise zeigen, unter welchen Bedingungen und mit welcher inhaltlichen Füllung dieses Gut nicht mehr zieht, wo es sich nicht mehr verkaufen lässt oder wo man besser ohne dieses Gut lebt. Das Gegenteil in den Blick zu nehmen, welcher „Gott“ beispielsweise trägt, wäre natürlich auch ein verdienstvolles Unternehmen.

 

Als Resumè bleibt in meiner Sicht nur eine Aufgabe, nämlich in der Wahrnehmung und Bereinigung gefährlicher Ideen zum gegenseitigen Nutzen zusammenzuarbeiten! Das könnte nach all dem Gesagten dann so aussehen, dass jede „Fakultät“ von ihrer besonderen „Auserwählung“ absieht, dass man sich auf gleicher Augenhöhe trifft und dass man als gemeinsames Ziel verfolgt: Gehorsam der Erde und der Wirklichkeit gegenüber sowie Dienst an der Erde und am Menschen, damit der Mensch in seinem kurzen irdischen Leben sowohl im therapeutischen als auch im seelsorgerischen Bereich immer weniger „Opfer des Menschen“ wird.

 

Anmerkungen

1 Zitate aus Jakob Robert Schneider, Das Familienstellen, Carl-Auer 2006, 18

   Hier finden sich auch entsprechende Literaturhinweise.

2 Hunter Beaumont, Aufstellung gefährlicher Ideen, in praxis der systemaufstellung,

   Carl-Auer Verlag GmbH, Heidelberg, Heft 2/2010, 19 f.

3 Erich Fromm, Psychoanalyse und Religion, München 1985, 31

4 Sebastian Murken, Gottesbeziehung und psychische Gesundheit, Waxmann 1998,  55 f.

5 Rabbi Shevach Zlatopolsky, Dem Urvater Abraham begegnen. Die Thora in Aufstellun-

   gen, in praxis der systemaufstellung, Carl-Auer Verlag GmbH, Heidelberg, Heft 2/2011, 67-69

6 Lorenz Zellner, „Auserwählt? Nein, das bist du nicht! – Leben antasten? Nein, das tu ich

   nicht“; in: praxis der systemaufstellung, Carl-Auer Verlag GmbH, Heidelberg, Heft

   1/2012, 19-25

7 Rabbi Shevach Zlatopolsky, s.o., 67

8 Ebd. 68

9 Quelle leider nicht mehr auffindbar

10 Siehe Internet, Christof Hardmeier, Predigt zu Gen 22,1-14, Opferung Isaaks?

11 Näheres in Matthias Varga von Kibéd – Insa Sparrer, Ganz im Gegenteil, Heidelberg

     2005, 147 ff.

12 Gunthard Weber (Hrsg.), Zweierlei Glück, Carl-Auer-Systeme Verlag 1993, 171 f.

13 Ebd. 216

14 Friedrich Nietzsche, Werke in drei Bänden II, München 1981,1169

15 Erich Fromm, Psychoanalyse und Religion, München 1985, 31

16 Karl Rahner, Herbert Vorgrimler, Kleines Konzilskompendium, Herder 1966, 494 f.

     Die Zitate stammen aus der Konzilskonstitution „Gaudium et Spes“  

 

Vertiefende Lektüre zu diesem Kapitel:

Dan Booth Cohen, Meine Untreue zum Stamm in praxis der systemaufstellung 1/2009,
29 ff., Vertrieb: Carl-Auer Verlag, Heidelberg

Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, Verlag C.H. Beck, München 2007