Lorenz Zellner
Auserwählungsvorstellung
in Judentum und Christentum
Überlegungen zu einem gefährlichen religiösen Gedanken
(S. 151-170 im Buch „Ich bin auf den Grund gegangen – aber nicht zugrunde“)
Hinführung 2
Mein Menschenbild 2
Zwei Statements zu diesem Menschenbild 2
Kerninhalte meines Menschenbildes 4
Auserwählungsdenken – ein gefährlicher Weg 5
Die Tatsache 5
Geschichtlich greifbare Wurzeln 5
Übernahme und Erweiterung durch das Christentum 6
Die Folgen bzw. was die Theologen übersahen 7
Der ungezügelte Appetit, auserwählt zu sein 8
Theologie unter Druck 9
Zusammenfassung (Niemöller, Slipyj, Dan Booth Cohen) 9
Anmerkungen 11
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„Die ewige Zeitbombe“
„Konturen und Motive eines explosiven Konflikts“ -
„Potentielle paranoide Selbstüberhebung"
"Das erhobene Haupt strengt an"
Hinführung
Die Menschheit braucht für ihr Fortbestehen und Überleben eine Ethik aus der Idee der Gleichheit und Ebenbürtigkeit aller Menschen. Unsere herrschende Ethik ent-stammt eher der Idee der Ungleichheit und der Unterschiede. Die Ungleichheit der Völker und der Menschen ist Fakt - und oft ist das Fakt zur Ideologie geworden. Es gibt die Größeren, die Besseren, die Weiseren, die Fortgeschritteneren, die Schöneren, die Stärkeren, die Wertvolleren - und es gibt die, die das Glück vergaß. Dies wird nicht nur als Tatsache hingenommen, sondern auch pragmatisch und theoretisch verteidigt und zu legitimieren versucht. Ein Legitimationsversuch rankt sich um den Begriff "Auserwählt". Wo dieser Begriff Teil des Selbstbewußtseins wird, gibt es Folgen, die sich individuell und gesellschaftlich fatal auswirken. Ich habe die Problematik in der Überschrift auf einige kurze Nenner gebracht. Vielleicht lassen Sie, liebe Leserinnen und Leser, diese Nenner noch einmal kurz auf sich wirken.
Im Folgenden verzichte ich weitgehendst auf Autorenangaben. Viele Denker und Praktiker haben mich inspiriert, vieles habe ich als sinnvoll übernommen, einiges ist auch auf eigenem Boden gewachsen. So möchte ich zum Nach-Denken dieser Gedanken einladen.
Mein Menschenbild
Aufgrund meiner Lebenserfahrungen, besonders der Erfahrungen in meinem seel-sorgerischen bzw. therapeutischen Beruf, aufgrund meiner Einsichten und meines Austausches mit vielen anderen denkenden Menschen gehört zu meinem Men-schenbild vorrangig der Satz: „Alle Menschen sind gleich und ebenbürtig“! Ich verstehe diesen Satz als Aussage und Anspruch.
Zwei Statements zu diesem Menschenbild
Ich möchte mit einem Autor beginnen, der hierzu etwas zu sagen hat und bereits viel Gutes gesagt hat. Bert Hellinger führte bei einem Vortrag 2001 in Toledo zum Thema "Ich bin wie Du" – abgedruckt im Buch „Der große Konflikt“ - folgendes aus:
"Vor kurzem war ich in Israel. Dort habe ich einen Ausflug an den See Genezareth gemacht, wo ein Mann aus Nazareth vor 2000 Jahren herumgewandert ist und auf einem Hügel nahe am See von den acht Seligkeiten gesprochen hat. Es war eine wunderbare Ruhe an diesem Ort. Man konnte spüren, es war ein besonderer Platz.
Dort habe ich mich daran erinnert, was Jesus über das gesagt hat, was selig macht. Ein Satz war: ‚Selig die Friedfertigen und die, die Frieden bringen. Sie heißen Kinder Gottes´. Und er hat gesagt: ‚Liebet eure Feinde. Tut Gutes denen, die euch hassen´... ‚Selig sind die, die ihre Feinde lieben, die Gutes denen tun, die sie has-sen´.
Dann kommt man auf eine höhere Ebene. Jesus beschreibt sie so: `Mein himmlischer Vater lässt die Sonne scheinen über Gerechte und Ungerechte, und er lässt den Regen fallen über Gute und Böse gleichermaßen´. Wer diese Liebe erreicht, der scheint wie die Sonne auf alle, wie sie sind, obwohl sie verschieden sind, wie Mann und Frau zum Beispiel. Und er lässt Regen fallen, das, was Segen bringt, auf jeden, wie er ist. Darüber habe ich am See Genezareth nachgedacht.
Dann habe ich zu verstehen versucht: Was läuft in der Seele ab, was ist der Vorgang in uns, der letztlich diese Liebe ermöglicht? Dazu ist mir ein Satz eingefallen: ‚Liebe heißt: Ich anerkenne, dass alle, wie sie sind, mir vor etwas Größerem gleichen, ich anerkenne, dass alle, wie unterschiedlich sie auch sein mögen, mir vor etwas Größerem gleich sind´. Das ist Liebe. Auf dieser Grundlage kann sich alles entfalten.
Und was ist Demut? Das Gleiche: ‚Ich anerkenne, dass alle, so unterschiedlich sie auch sein mögen, mir vor etwas Größerem gleichen´…
Was ist, wenn es Verletzungen gab? Vergeben und Vergessen sind das Gleiche. ‚Ich anerkenne, dass alle, so unterschiedlich sie auch sind, mir vor etwas Größerem gleichen´.
Wir können hier eine kleine Übung machen, um uns in diese Liebe einzufühlen. Stellt euch vor, ihr geht zu jedem, der euch verletzt hat, der euch in eurem Leben einmal wehgetan hat.
Ihr sagt ihm: ‚Ich bin wie Du´. Jedem Einzelnen: ‚Ich bin wie Du´.
Dann stellt ihr euch die vor, denen ihr etwas angetan habt, die ihr auf irgendeine Weise verletzt habt, und sagt jedem: ‚Ich bin wie Du. Du bist wie ich´.
Was erfahren wir am Ende einer solchen Übung. Es lässt sich in einem Wort sagen: Friede“ (1).
Im gleichen Buch "Der große Konflikt" schreibt Hellinger zum Thema "Menschen-liebe": "Menschenliebe heißt, dass ich die Menschen liebe, wie sie sind, dass ich mich über sie freue, wie sie sind, dass ich mich als ihnen gleich erkenne und jeden in seiner Einzigartigkeit liebe, ohne den Wunsch, dass er anders sei, als er ist.
In diesem Sinne liebe ich auch sein Schicksal, wie es ist, selbst wenn ich es nicht verstehe, selbst wenn es mich herausfordert, mich auch einschränkt, mir eine Bürde auferlegt. Sein Schicksal ist nicht anders als meines, wenn ich sein und mein Schicksal als vorherbestimmt erfasse, und in diesem Sinne auch unausweichlich.
Dann sehe ich ihn und mich größeren Kräften ausgeliefert und untertan, denen er und ich uns gleichermaßen fügen, was immer es uns an Freud und Leid ermöglicht und zumutet. Aus der Zustimmung zu diesen Mächten erwächst die wahre Men-schenliebe, jedem gleichermaßen zugewandt, weil sie sich weder besser noch schlechter, weder größer noch kleiner weiß, sondern allen vor etwas Größerem ebenbürtig und gleich...
Also, achten wir uns gegenseitig, so lange wir da sind, und lieben wir uns mit Ach-tung, weil wir da sind, verschonen wir uns auch voreinander und lassen uns in die-ser Liebe für unser je Eigenes frei..." (2).
Kerninhalte meines Menschenbildes
Kurz und bündig würde ich die Kerninhalte meines Menschenbildes in den folgen-den kurzen Sätzen zusammenfassen:
- Alle Menschen sind im Wesentlichen gleich.
- Alle haben das gleiche Recht, ebenso wie ich da zu sein.
- Alle haben das gleiche Recht, dazuzugehören.
- Alle sind erhaben und groß. Über allen scheint die Sonne. Allen gilt die Gabe des
Regens.
- Alle sind gut. Es gibt keine Besseren und Schlechteren. Alle sind auf ihre Art und
Weise verstrickt und daher auch gebunden - nicht mehr oder weniger als ich.
- Alle sind geführt bzw. in Dienst genommen.
- Alle sind wichtig und bedeutsam.
Solche Festlegungen haben natürlich zur Folge, dass ich Liebe für alle entwickle, - jenseits von Gut und Böse, wie jeder auch sein mag -, dass ich alle als zugehörig anerkenne, dass ich im Einklang mit allen bin, dass mein Herz für alle schlägt, dass ich immer wieder Einklang und Versöhnung suche. Dazu braucht es Größe. Und der Mensch wird groß über die Einsicht und das Praktizieren dieser Gleichheit. Dazu muss ich einen langen Weg der Reinigung gehen. Aber diese Reinigung fördert mein Wachstum und erfüllt. Sie ist aber nur dann möglich, wenn ich von einem Grösseren her lebe und mich einem Größeren überlasse, wenn ich also im Einklang bin mit meiner Abhängigkeit von Kräften jenseits meines Wünschens.
Ich schließe die Darlegungen über mein Menschenbild mit einer weiteren Einsicht von Bert Hellinger: „Groß ist nur, wer sich den anderen gleich fühlt, denn das Größte, was wir haben, ist das, was wir mit allen Menschen teilen. Wer dieses Große in sich fühlt und anerkennt, weiß sich groß und zugleich mit allen anderen Menschen verbunden … Er liebt die anderen in ihrer Größe und wird von ihnen in seiner Größe geliebt. Daher verbindet diese Größe alle Menschen mit Demut und Liebe“ (3).
Diese feinsinnigen Überlegungen mögen genügen, um für die Diskussion eines anderen Menschenbildes gerüstet zu sein, das die Ungleichheit der Menschen the-matisiert und fest in unseren Weltanschauungen und Herzen verankert ist.
Auserwählungsdenken – ein gefährlicher Weg
Die Tatsache
Dem Auserwählungsdenken begegnen wir in fast allen uns bekannten Religionen und Kulturen, in vielen Staaten und Gruppen. Die Folgen dieses Denkens haben wir in extremer Zuspitzung im Geschehen des Holocaust erlebt. Und hier hat sich dieses Denken im wahrsten Sinn des Wortes "totgelaufen". Bert Hellinger schreibt zu diesem Thema:
"In der Seele von Christen und Juden nimmt das Bild der Auserwählung durch Gott einen zentralen Platz ein. Die Christen haben dieses Bild von den Juden über-nommen und sich als das neue auserwählte Volk bezeichnet und als Folge davon das jüdische Volk als von Gott verlassen und verworfen betrachtet. Das Bild der Auserwählung unterstellt also Gott, dass er das eine Volk bevorzugt, es über die anderen Völker erhebt und ihm die Herrschaft über sie überträgt...
Die sich auserwählt fühlen, identifizieren sich dabei mit dem Gott, der auserwählt und verwirft, wählen selber aus und verwerfen wie er und werden so für andere, die sie für verworfen halten, furchtbar.
Was aber, wenn auch andere Gruppen und andere Völker nach den gleichen inneren Bildern handeln? Das Ergebnis sehen wir in den Religionskriegen. Dabei nehmen diese Gruppen weder sich noch die anderen als einzelne Menschen wahr. Beide Gruppen handeln wie von einem kollektiven Wahn besessen" (4).
Ich glaube, hier ist treffend zusammengefasst, was ein perverses und brandge-fährliches Denken im letzten Jahrhundert angerichtet hat. Und nicht nur im letzten Jahrhundert! Die Geschichte ist voll von einschlägigen Beispielen. Und diese rei-chen weit zurück.
Geschichtlich greifbare Wurzeln
Was unseren Kultur- und Geistesraum betrifft, werden die Bilder der Auser-wählung historisch und literarisch erstmals greifbar in den heiligen Schriften und in der (sozialen) Praxis des Judentums. Sie finden sich dann später wieder in den Schriften und in der Praxis der Christen und Moslems.
Als Beispiel für die literarische Greifbarkeit dessen, was mit Auserwähltsein gemeint ist, nehme ich eine Schrift des Alten (Ersten) Testamentes, das Buch Deuteronomium (5). In dieser Schrift, einer sorgfältig fabrizierten Utopie, die etwa im 7. Jahrhundert vor Christus entstanden und als Abschiedsrede des Mose an die Israeliten stilisiert ist, ist Erwählung ein Vorzugswort und wird dort etwa dreißig Mal gebraucht. Über dieses Buch sagt der Alttestamentler Otto Kaiser: "Die Be-deutung des Deuteronomiums für die weitere Geschichte des Judentums, aber auch des Christentums und des Islam ist kaum zu überschätzen“ (6).
Es lohnt sich, die fiktive Rede des Mose in Dtn 7,6-8,20 zu lesen. Dieser Text und die kontextuellen Stellen des gleichen Buches zeigen, was das Wort "Erwählung" wirklich in sich birgt:
- Die Erwählung Israels ist höchst abgesegnet. Es ist kein anderer als der große Mose selbst, der einst diese Worte "vor ganz Israel gesprochen hat" (1.1).
- Es handelt sich hier um ein besonderes Privileg: "Der Herr lässt dich erstehen als das Volk, das ihm heilig ist“ (28,9), als „sein Eigentum" (7,6).
- Die Erwählung Israels wird der herablassenden Liebe Jahwe´s zugeschrieben (7,8). Israel darf sich das nicht selbst zuschreiben (7,7).
- Begründet wird die Erwählung mit der Bosheit der Völker: "um ihres gottlosen Treibens willen" (9,4-5), bzw. mit Verweis auf das Wort, "das er geschworen hat deinen Vätern Abraham, Isaac und Jakob" (9,5).
- Vom Erwählungsgedanken soll ein starkes Israel ausgehen. "In einer schwierigen religiösen und politischen Lage soll Israel neue Hoffnung erschlossen werden" (Alttestamentler Walther Zimmerli).
- Als Vorteile der Erwählung werden der besondere Schutz und Segen Jahwe´s, die Gewährleistung eines ständigen Wohlergehens, reiches fruchtbares Ackerland, sicheres Wohnen, Ruhe vor Feinden u.ä. genannt (12,10).
- Zu den Pfichten der Erwählung gehören der alleinige Dienst an Jahwe unter Ausschluß jeder anderen Gottheit, Hass gegen das Böse und Eifer für das Gute, Sorge um die Einheit und Reinheit des Kultes und vor allem die Absonderung von anderen Völkern - und hier die Gnadenlosigkeit gegen diese bis hin zur ihrer Ausrottung (7,1-2; 9,1-5; 25,19). Auf dem Einhalten dieser Pflichten liegt hoher Segen (28,1-14). Auf der Nichteinhaltung stehen hohe Sanktionen (28,15-68).
"Erwählung" als Vorzugswort in einem Grundsatzprogramm schafft natürlich in-nenpolitischen Zusammenhalt und hilft Klassengegensätze zu überwinden (14,28 f; 26,12 f). Andererseits erschafft es aber Hass gegen alles, was nicht zu Israel gehört (25,19). Und insbesondere erbaut dieses Wort ein irres Selbstbewusstsein: "Und alle Völker auf Erden ... werden sich vor dir fürchten" (28,10).
Übernahme und Erweiterung durch das Christentum
Dieses "Herzstück einer Theologie" (7) wurde nun vom Christentum übernommen, inhaltlich zu seinen Gunsten verändert und mit Eigenem angereichert. Die Christen haben sich als das neue auserwählte Volk bezeichnet und Israel als verworfen erklärt. Heute bekennen sich allerdings wieder die meisten christlichen Theologen zur Tatsache der Auserwählung als dem ursprünglichen „Privileg“ Israels. Sie mühen sich aber auch im Sinn einer oberflächlichen Ökumene ganz stark um die Anteilnahme an diesem „Privileg“ und sehen sich zusammen mit Israel als Geseg-nete und Erwählte, während durch viele Jahrhunderte der Grundsatz "Erwählung statt der Juden" und die Theologie der Verwerfung die Oberhand hatten. Eine fun-damentalkritische Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Frontwechsel scheint noch in weiter Ferne zu liegen.
Die Folgen bzw. was die Theologen übersahen
Aus der Utopie eines religiösen Grundsatzprogrammes mit dem Leitwort "Erwäh-lung" ist es u.a. zu folgenden schlimmen Folgen gekommen:
- Ein intoleranter "Gott"
wurde konstruiert, der sich auf Gedeih und Verderb mit
einem Volk verschworen hat.
- Eine Spaltung der Menschheit auf höchstem Niveau wurde produziert. In Zukunft besteht die Menschheit aus zwei Gruppen: aus Erwählten und Nichterwählten, aus Geretteten und Verworfenen bzw. aus Gesegneten und Nichtgesegneten, aus Vor-gezogenen und Verfluchten, aus Lieblings- und Wegwerfkindern.
- Politische Neutralität und religiöse Toleranz sind theoretisch und oft auch prak-tisch ausgeschlossen.
- Was für die innere Einigung bedeutungsvoll und fruchtbar ist, wird durch eine Absonderung nach außen wieder verspielt.
- Eine Erwählungstheologie ist fatal für den Frieden in der Welt. Wir sehen heute, was passiert, wenn Auserwählte und Verworfene zusammenstoßen bzw. wenn zwei Auserwählte sich begegnen. Darum ist Jerusalem auch die problematischste Stadt der Welt! Helm Stierlin, der große Mann der Heidelberger Schule und Pionier der systemischen Familientherapie hat sich gerade zu diesem Thema wie folgt geäußert: „Solange die Christen selbst in die Rivalitäten der Geschwister und Geschwistergruppen der Weltfamilie verstrickt sind und ihr Heil der Auserwählung gegen andere Gruppen verwirklichen und solange sie dabei grundlegende Lebensregeln, Rechte und Pflichten dieser Weltfamilie … nicht anzuerkennen vermögen, sind sie ungeeignet für die Rolle eines Supertherapeuten“. (8)
- Diese Theologie ist auch fatal für den Einzelnen, denn Erwählungsstolz und Verwerfungsangst können Mitmenschlichkeit und eigene Lebensgestaltung stark einschränken. Im Buch Esra wird die Auflösung von Mischehen (Juden mit heid-nischen Frauen) erzwungen und mit "Treuebruch gegenüber Jahwe" und "Ge-fährdung der Heiligkeit des Gottesvolkes" begründet.
Die Folgen einer solchen Theologie sind unschwer erkennbar verheerend. Am schlimmsten scheint mir dabei zu sein, dass für die Idee der Auserwählung ein "Gott" herhalten muss, der wenig Göttliches aufweist, für den die Menschheit wie bei einem orientalischen Despoten in loyale Untertanen und verfluchte Rebellen zerfällt.
Der ungezügelte Appetit, auserwählt zu sein
Die Idee der Auserwählung ist vielerorts und zu allen Zeiten greifbar. Da steht Religion gegen Religion: das Christentum gegen das Judentum, das Christentum gegen den Islam, der Islam gegen das Judentum, der Islam gegen das Christentum, das Judentum gegen das Christentum, das Judentum gegen den Islam. Da bezeichnet sich eine christliche Kirche als allein seligmachend und verfügt über Himmel und Hölle, da setzen sich viele kleine Religionsgemeinschaften gegen die großen ab und wissen, wer zu den 144000 Auserwählten gehört. Da bekämpfen sich in Nordirland Katholiken und Protestanten, im Irak Sunniten und Schiiten, in Indien Hindus und Moslems, auf dem Balkan orthodoxe Serben, katholische Kroaten und islamische Bosniaken. Da stehen "auserwählte "Völker" gegen-einander, da soll am deutschen Wesen die Welt genesen, da erheben Engländer den Anspruch auf das Erstgeburtsrecht unter den Nationen (heute sind sie von den USA abgelöst), da sprechen die Iraner von den schmutzigen Arabern, da wurde die Welt kolonialisiert und die Herrschaft der weißen Rasse demonstriert (gegen Afrikaner, Asiaten und Indianer), da vertreibt Israel die Palestinenser. Da wartet ein Chamberlain mit seiner Germanentheorie auf, ein Geibel mit der schon erwähnten "Weltgenesung am deutschen Wesen", ein Tolstoi mit der Verherrlichung des Russentums usw. Kaum eine Weltkrise gab es bisher ohne eine religiöse Kompo-nente bzw. ohne besondere religiöse oder nationale Legitimation.
Und innerhalb der Religionen gibt es immer noch auserwählte Priester, auserwähl-te Ordensleute, bevorzugte Männer, benachteiligte Frauen, Gerechte und Sünder, Gerettete und Verworfene bis ins ewige Leben hinein.
Da die Idee der Auserwählung hauptsächlich aus dem religiösen Bereich kommt, möchte ich sie noch einmal auf Grund der Rezeptions- und Wirkungsgeschichte ad irritum führen. Der katholische Bibelwissenschaftler Othmar Keel bringt zwei signifikante Beispiele (9):
- Das erste Beispiel handelt von den südafrikanischen Buren. Die Buren wollten in der Bibel ihre eigene Geschichte entdeckt haben. Am Kap von den Engländern unterdrückt - wie die Israeliten von den Ägyptern - ziehen sie weiter ins "Gelobte Land". Die Überquerung des Oranje-Flusses steht in ihrem Denken dann parallel zur Überquerung des Jordan durch das Volk Israel. Die "schwarzen Barbaren" greifen die Neuankömmlinge an. Aber mit der Hilfe Gottes vernichten die Buren diese Verehrer von Holz und Stein und sexuell Degenerierten und machen sie zu untersten Knechten und Mägden, „wie es den Nachkommen des dunklen Ham bzw. Kanaans gebührt“. Dass "intermarriage" (Mischehe) nicht infrage kommt, war selbstverständlich. O. Keel resumiert: "Man kann das als fundamentalistisches Missverständnis abtun. Die Buren verstanden das als Strukturanalogie".
- Das zweite Beispiel, auf das Keel verweist, betrifft bibelfeste nordamerikanische Glaubensgemeinschaften. Diese arbeiteten mit den gleichen Strukturparallelen wie die Buren. Die Indianerinnen hatten dann z.B. die Aufgaben der versklavten Ka-naanäerinnen zu übernehmen.
- Ein drittes Beispiel wirft einen Blick auf die serbisch-orthodoxe Kirche mit ihrer noch in der jüngsten Geschichte angebotenen Theologie: Diese versteht die Serben als "Christusvolk" und "zweites Israel". Einer der Großtheologen der serbischen Orthodoxie entwickelte folgende makabre Szenerie: Wie Christus auf Golgotha ist jeder serbische Soldat 1389 auf dem Amselfeld gekreuzigt worden. Wie damals König Lazar für Christus starb, so tun es die Serben, wenn sie heute im Krieg ster-ben. Durch die Schlacht am Amselfeld sind die Serben ein Gottesträgervolk gewor-den, das zur Erneuerung aller Völker der Erde beiträgt … Im Balkankrieg wurde noch einmal zu vermitteln versucht: Dieses "himmlische Gottesvolk" hat Rechte, die von keiner natürlichen Ethik begrenzt werden können (10). Hoffentlich war es der letzte Versuch!
Theologie unter Druck
Die Theologie der Erwählung ist mächtig unter Druck geraten. Ein "Herzstück der Theologie" wird immer öfter als "theologische Entgleisung" verstanden. Aber trotzdem gibt es über eine gequälte Schriftauslegung für das Schlimme, Un-menschliche und nicht mehr Vermittelbare eine Reihe von Rechtfertigungs-versuchen. Äußere Vorgänge werden dann in die Psyche verlegt - und die verwor-fenen Kinder Babylons, die man an den Felsen zerschmettern soll, werden als die schlechten Begierden gedeutet. Es gibt wahrlich eine Menge toller und einfalls-reicher Deutungen. Andere Versuche, diese Theologie zu retten, gehen in die Offensive: Auserwählung durch Gott wird als große Last dargestellt, als Dienst, als In-Anspruch-Genommen-Sein, als Sein für Andere. So schön diese Idee auf den ersten Blick aussieht: Die Grundlagentexte, die von „Erwählung“ handeln, spre-chen eine andere Sprache. Auch die Bewertung "Antriebspsychologie" (11) greift zu kurz und lenkt nur vom Drama ab. Die Antriebskosten werden unterschlagen, die Schäden schöngeredet oder totgeschwiegen.
Zusammenfassung
"Erwählt sein", was gewöhnlich bedeutet, sich im Besitz der Wahrheit fühlen, Gott für sich speziell in Anspruch nehmen dürfen, ein besonderes Sendungsbewusstsein für sich reklamieren, ist eine Gefahr für den Frieden der Psyche und eine Gefahr für den religiösen, den sozialen und den Weltfrieden. Die Abkehr von diesem Bild und die Pflege des Gleichheitsgedankens, wie oben ausgeführt, gehören wesentlich zur inneren Versöhnung mit sich und zu einer aktiven Friedenspolitik. Abdankung ist angesagt. Wie ist das aber möglich? Bert Hellinger bringt die Lösung auf eine einfache Formel: "Solche Bilder (wie das der Auserwählung) werden hinfällig, wenn Menschen sich als Menschen begegnen, sich in die Augen schauen, und sehen, dass niemand erwählt ist, und niemand Ärger und Krieg will" (12).
Ich schreibe an den Schluss dieses Beitrages über eine gefährliche Idee nicht nur groß die Forderung nach Abschaffung und Ächtung. Ich werbe darüber hinaus für die Gleichheit aller Menschen mit beispielhaften Vorbildern. Mit ihnen könnte der Rückzug von bestimmten Ideen und Gewohnheiten beginnen, könnte eine wahre Humanität punkten und gewinnen. Ich schließe mein Thema mit drei bewegenden Beispielen ab:
Beispiel 1: Pastor Martin Niemöller, als führendes Mitglied der „Bekennenden Kirche“ von den Nazi`s in Haft genommen, schrieb folgendes Geständnis:
„Im Jahr 1944 erst, also in meinem letzten Gefangenschaftsjahr, ist mir an einem Nachmittag eine Erkenntnis gekommen: Ich hatte niemals mit dem schwarz unifor-mierten Menschen gesprochen, der in meine Zelle kam, um mir Essen zu bringen oder Geschirr abzuholen oder sonst was. Ich stand auf dem Standpunkt, diese Ban-de in schwarzen Uniformen, die geht mich nichts an. Und da, als der SS-Mann aus meiner Zelle raus gegangen war, da ist mir plötzlich eine Erkenntnis aufgegangen, und ich habe mich fragen müssen: Kannst du eigentlich sagen, dieser Mensch geht dich nichts an? Kannst du eigentlich so tun, als ob das ein Unterschied wäre“ (13).
Beispiel 2: Die folgende Geschichte (14) dreht sich um den früheren Großerzbi-schof der Ukrainer in Lemberg und späterem Kardinal Josef Slipyj. Dieser Mann, die zentrale Gestalt der mit Rom unierten Kirchen, wurde bereits 1941 von den Sowjets zum Tode verurteilt, kam wie durch ein Wunder mit dem Leben davon, wurde dann 1945 erneut verhaftet und zur Zwangsarbeit nach Sibirien verbannt, wo er an die 20 Jahre schuftete und litt, bis ihn Papst Johannes XXIII nach Rom holen konnte. In Sibirien, so erzählte er uns jungen Theologiestudenten nach seiner Befreiung und bei seiner ersten Rückkehr an seinen Studienort Innsbruck, musste er seine Pritsche mit einem Funktionär der kommunistischen Partei teilen, der als Kommunist ebenso wie Slipyj als Christ in Ungnade gefallen war. Und dann ge-stand uns Slipyj, wie sie beide durch das gleiche Schicksal und die gleiche Pritsche zueinander fanden und sich wertschätzen lernten. Und das war das wahre Wunder: Als die beiden, der Kommunist und der Bischof nur noch Mitmenschen waren, als es um das Elementare, um das Leben und das Überleben ging, als alles Andere unwichtig wurde, da brachen die Gegensätze zusammen, da wurden beide Freunde. Ob diese Freundschaft den beiden in der Eigenschaft als Erzbischof vom Lemberg bzw. als kommunistischer Funktionär von Lemberg auch gelungen wäre, darüber kann sich jeder seine persönliche Meinung bilden.
Beispiel 3: In „praxis der systemaufstellung“, Heft 1/2009 erklärt uns der jüdische Wissenschaftshistoriker und Aufstellungsleiter Dan Booth Cohen seine partielle „Untreue zum Stamm“ der Juden. Er konstatiert die Tatsache, „dass wir Juden in jeder Generation Feinde haben, die uns nach dem Leben trachten“, und begründet dies auch mit ihrer Absonderung. Er bietet dann als ersten Schritt für eine Lösung an, „ein schlechtes Gewissen gegenüber den Elementen im Judentum zu haben, die uns verpflichten, abgesondert zu bleiben“ und fährt dann fort: „In diesem Geist ehre und folge ich denjenigen Lehren der jüdischen Weisen, die der Verbesserung der Welt dienen. Doch ich weigere mich zu sagen: ‚Ich kann nicht an deinem Tisch sitzen und dein Brot essen, ich kann deine Gebete nicht teilen. Wenn mein Sohn sich in deine Tochter verliebt, ist das der Tod für mich´. Ich bringe meinen Kindern nicht bei, dass die ganze Welt uns Juden umbringen will“. Stattdessen steht am Passahfest im Hause von Dan Booth Cohen ein anderes Programm im Mittelpunkt: „Friede entsteht, wenn jeder von uns an den Tisch der großen Menschheitsfamilie, deren Heimat der Planet Erde ist, seinen Platz einnimmt“ (15).
Martin Niemöller, ein nachdenklicher protestantischer Pastor, Josef Slipyj, ein großartiger katholischer Bekenner, Dan Booth Cohen, ein wahrer, ehrlicher und mutiger Jude! Sie sind als echte Menschen und wahre Mitmenschen Vorbilder. Es ist eine Freude, ihnen und ihrem brüderlichen Geist zu begegnen. Große Kraft geht von ihnen aus. Sie sind wirkliche Hoffnungsträger für die Menschheit, weil sie die Idee der Gleichheit und die Option der Ebenbürtigkeit aller am Leben erhielten. Im Blick auf sie verlieren so manche „Auserwählte“ und „Abgesonderte“ ihre An-ziehung, mögen sie noch so hoch oben stehen, noch so auffallend gekleidet sein oder sich noch so hochstaplerisch in Szene setzen.
Anmerkungen
1 Bert Hellinger, Der große Konflikt, Goldmann 2005, 176-178
2 Ebd. 173-175
3 Bert Hellinger, Entlassen werden wir vollendet, Kösel 2001, 13
4 Ebd. 150-151
5 Die Bibel, Einheitsübersetzung, Freiburg im Breisgau 1980, 166-211
6 Otto Kaiser, Grundriss der Einleitung in die kanonischen und deuterokanonischen
Schriften des Alten Testamentes, Band 1, 1992, 91
7 Lothar Perlitt, Deuteronomium-Studien, FAT 8, 1994
8 Zitiert in Helmut Hark, Religiöse Neurosen, Kreuz Verlag 1984, 138
9 Othmar Keel in Bibel und Kirche 1995/1 und 1995/2
10 Siehe Sonja Vogel, Serbische Identität zwischen politischer Radikalität, Folklorismus
und Moderne, München 2006, GRIN Verlag GmbH
11 Bibel und Kirche 2/1991, 51 f.
12 Quelle nicht mehr auffindbar
13 Zitiert in Barbara und Hans Hug, Blätter, die uns durch das Jahr begleiten, Stuttgart
1992, 8. März
14 Persönliche Erinnerung an den Besuch von Bischof Josef Slipyj ca.1963 im Canisianum
in Innsbruck
15 Dan Booth Cohen, Meine Untreue zum Stamm in praxis der systemaufstellung, Carl-
Auer Verlag GmbH Heidelberg, Heft 1/2009, 29-32
Bestellmöglichkeit
des Buches von Lorenz Zellner
„Ich bin auf den Grund gegangen – aber nicht zugrunde“
beim Verlag epubli GmbH, Berlin: www.epubli.de >>>
Über den allgemeinen Buchhandel: ISBN: 978-3-8442-7673-2