Lorenz Zellner

 

 

Das gleiche Grundanliegen von Religion und Therapie

 

(Aus Kap 9, S. 106 - 121 im Buch „Ich bin auf den Grund gegangen – aber nicht zugrunde“)

 

 

Inhalt

 

 

 

Man kann zum Dasein nicht nicht Stellung nehmen                                                   2

Das Besondere unserer Beziehung zu unserer Existenz                                              3

Das Besondere unserer Geistigkeit, sich einen Begriff vom Letzten zu machen
       und Gefühle, Einstellungen und Verhaltensweisen zu entwickeln                        5

Die Bedeutung der Religionen – die Bedeutung des Christentums                              7

Anfechtungen gegen ein positives Welt- und Menschenbild                                      10

Therapie und Religion haben ein gleiches Grundanliegen                                          12

Résumé: Die eine Wirklichkeit und die verschiedenen Schulen                                 12

Anmerkungen                                                                                                               14

 

Zu weiteren Artikeln aus demselben Buch >>>

 

Kostenloser Download des vollständigen Buches
„Ich bin auf den Grund gegangen – aber nicht zugrunde“
von Lorenz Zellner (PDF)
>>>

 

 

Bestellmöglichkeit der Druckfassung des Buches von Lorenz Zellner
beim Verlag epubli GmbH, Berlin: www.epubli.de
>>>

Über den allgemeinen Buchhandel: ISBN: 978-3-8442-7673-2

 

Pfad zum Teilen:

https://hanglberger-manfred.de/zellner-auf-den-grund-gegangen-therapie-und-religion-htm.htm

 

 

 

 

 

 

 

 

Man kann zum Dasein nicht nicht Stellung nehmen

 

Das Thema unseres Lebensbezuges ist ein Dauerbrenner, es liegt schon von alters her in der Luft, wurde jedoch aus vielerlei Gründen zwischenzeitlich immer wieder ignoriert oder tabuisiert. Ich möchte hier auf einen Forscher hinweisen, der das Thema schon vor Jahrzehnten im psychologischen und therapeutischen Kontext aufgegriffen und angemahnt hat, auf den berühmten Psychotherapeuten Paul Watzlawick. Nach über zweihundert Seiten über die pragmatische Wirkung der menschlichen Kommunikation (30), also über uns Menschen in unserem gesellschaftlichen Nexus, in unseren zwischenpersönlichen Beziehungen, nimmt er in seinem berühmten Epilog Bezug auf unseren existentiellen Nexus, auf die Beziehung zu unserem Dasein, zu unserer Existenz. Er äußert hier seine Überzeugung:

„Wer den Menschen nur als sozialen Organismus sieht, lässt seinen existentiellen Nexus unberücksichtigt, in dem seine zwischenpersönlichen Beziehungen nur einen, wenn auch sehr wichtigen Aspekt darstellen“ (31).

Und er betont: „In einem gewissen Sinn ist dieser Epilog also ein Glaubensbekenntnis – ein Bekenntnis dazu, dass der Mensch in einer breiten, vielfältigen und intimen Beziehung zum Leben steht“ (32).

Anschließend beklagt er, dass dieses „Gebiet“, diese Beziehung „von rein psychologischen und soziologischen Theorien nur zu oft vernachlässigt wird“ (33). Damit hat Watzlawick tief in die Kiste gegriffen. Und das Thema hat in der Folge immer mehr auf einen großen Kreis übergegriffen: In Anlehnung an das metakommunikative Axiom von Watzlawick „Man kann nicht nicht kommunizieren“ (34), muss man auch hier festhalten: „Man kann auch mit dem Dasein nicht nicht kommunizieren“. Man kann zum Dasein nicht nicht Stellung nehmen. Man kann sich in ihm nicht nicht verorten. Kommunikation ist auch hier „conditio sine qua non menschlichen Lebens“, d.h. etwas, ohne das nichts geht (35).

 

Im eben erwähnten Epilog seines Buches geht also Watzlawick auf unseren existentiellen Nexus ein, auf das große Thema, das auch zu unserer Existenz gehört. Wir stehen nicht nur in einer bestimmten Beziehung zum sozialen Miteinander, sondern auch zu allem, was darüber hinausreicht. Das ist der rätselhafte, subjektiv gefühlte, subjektiv bebilderte, subjektiv bewertete Bereich des Ganzen, des Letzten, des Verborgenen als anerkannter und unbezweifelbarer Gegebenheit. Hier gibt es keine Null-Beziehung, ob man dies sich eingesteht oder nicht wahrhaben will. Die Kolleginnen und Kollegen, die sich über Form und Inhalte ihrer Kommunikation mit dem Letzten und Ganzen Gedanken machen und äußern, sind also in guter Gesellschaft. Sie geben dieser Beziehung Worte und gestalten eine neue Art von Leben.

 

Watzlawick weiß: Wir leben in verschiedenen Zusammenhängen. Es gibt unseren sozialen Zusammenhang, unsere soziale Organisation, unsere zwischenpersönlichen Beziehungen. Auf diesem Gebiet hat Watzlawick seine Prinzipien erforscht und festgeschrieben. Auf diesem Gebiet sind auch wir, wie oben erwähnt, „in breiten, vielfältigen, intimen Beziehungen“. Diese sozialen Beziehungen sind nach Watzlawick so wichtig, dass es uns durch viele Experimente belegt „nicht möglich ist, unsere geistige Stabilität auf Dauer nur mittels Kommunikation mit uns selbst aufrechtzuerhalten“ (36). „Es hat den Anschein, dass wir Menschen mit anderen zur Erhaltung unseres Ichbewusstseins kommunizieren müssen“ (37).

 

Darüber hinaus leben wir natürlich auch die Beziehung zu uns selbst, sind uns selber ausgesetzt, verhalten uns vielfältig uns gegenüber, sind abgeklärt oder unsicher, erleben uns als wissend und wissensbedürftig usw. Auf jeden Fall können wir uns nicht aus dem Weg gehen. Hier gelten die gleichen Prinzipien wie in der sozialen Kommunikation.

 

Und für die Beziehung zu unserer Existenz werden sie wohl auch gelten, denn wir können mit der Wirklichkeit, mit dem Dasein weder körperlich, seelisch oder geistig nicht nicht kommunizieren. Wir sind nehmend und gebend verbunden, betroffen und agierend, wortlos und sprachlich, fühlend und denkend usw. Das Ganze ist uns ausgesetzt und wir dem Ganzen. Eine Stellungnahme ist unausweichlich. Sie ist noch dazu das Individuellste, Persönlichste, die größte Zumutung, vor die wir gestellt sind, und die höchste Auszeichnung, die wir haben.

 

Das Besondere unserer Beziehung zu unserer Existenz

 

Nexus, Verbindung, Beziehung, dieses Faktum hat immer zwei Seiten, zwei Partner. Sie sind, was unseren existentiellen Nexus betrifft, von besonderer Art. Da ist zunächst etwas, was da ist, eine Wirklichkeit. Und dieses etwas, was da ist, war schon vor mir da. Und ich bekomme jetzt daran Anteil. Dieses Dasein hat eine „Begabung“, die mich angeht, die mich beschenkt und provoziert. Es gibt den schönen Ausdruck: Ich bin ins Dasein gerufen. Ich stecke nun in diesem Dasein und stehe ihm gegenüber. Ich bin auch „begabt“, auf dieses Dasein zu reagieren, mich zu verhalten. Von Anfang an reagiere und agiere ich, bin betroffen und gestalte. Die Bezüge zum Dasein verändern, vertiefen, erweitern sich aufgrund unserer Erfahrungen, Lebensverhältnisse, Mitmenschen, Dialoge, Auseinandersetzungen ständig. „Begabung“ trifft also auf „Begabung“ und entfaltet eine Lebendigkeit, ein „Gewuhrl“ von unaufhörlichen Wechselwirkungen und laufenden Neubildungen. Mein jeweiliges Verstehen und Verhalten wirkt sich auf mein Tun aus und dieses beeinflusst wieder mein Verständnis und neues Handeln.

Unser existentieller Nexus, unsere Kommunikation mit dem Dasein hat u.a. mit drei Erscheinungsformen dieses Daseins zu tun. Da gibt es den aufgehellten Bereich unseres Daseins, das genügend gute Verständnis des Lebens, den gesunden Pragmatismus, das Vorgehen, wie man eben das Leben genügend gut bewältigt. Dann gibt es einen nicht aufgehellten Bereich unseres Daseins. Paul Bresser hat diesen Begriff geprägt, als er vom „nicht aufgehellten Bereich des Seelischen“ (38) sprach. Auch in Bezug auf unser Dasein wird ein solcher Bereich als unbezweifelbare Wirklichkeit wahrgenommen, empfunden, gefühlt, anerkannt. Und dies überall in der ganzen Wirklichkeit, wo sich nach Albert Einstein - wie schon oben erwähnt - eine so „überlegene Vernunft“ offenbart, „dass alles Sinnvolle menschlichen Denkens und Anordnens dagegen ein gänzlich nichtiger Abglanz ist“( 39). Wir spüren es alle: In diesem „nicht aufgehellten Bereich“ läuft vieles ab: Manches können wir ans Licht bringen, anderes kennen wir nur ansatzweise, anderes vermuten wir, anderes stricken wir uns zusammen usw. Es gibt biologische Vorgänge, die uns nie oder nur über die Technik bewusst werden. Es gibt dem Bewusstsein entzogene Erinnerungen, Vergessenes, Verdrängtes. Im Bereich dieses Unbewussten vermuten wir auch noch nicht Erwachtes, Schlummerndes, noch nicht entwickelte schöpferische Fähigkeiten, heilende Kräfte, unausgeschöpfte Ressourcen. Hier können wir uns immer wieder über die Aufhellungsvorgänge in den modernen Wissenschaften freuen. Und dann gibt es noch den menschlich nicht aufhellbaren Bereich, auf den ich mich hier beziehe und begrenze, den Bereich des großen Ganzen, des Letzten, des Tiefsten usw. Irgendwo, ich glaube bei Paul Watzlawick habe ich gelesen, die Existenz dieses Bereiches wäre klar, nur manche müssten sich selbst noch überzeugen, dass sie solchen Bereichen unterworfen sind.

 

Gewöhnlich spüren aber Menschen etwas, wo sie nicht durchblicken und worüber sie nicht verfügen können. Dennoch wollen sie „aufs Ganze gehen“ und dieses Ganze nicht übersehen. Für viele ist nämlich im nicht aufhellbaren Bereich doch etwas zu Hause: für den Humanisten z.B. die unverfügbaren Menschenrechte, das, was das Wesen des Menschen und unsere Menschlichkeit ausmacht, das eigentlich Humane, das jedem Zugriff entzogene, die Verortung der „Goldenen Regel“. Und innerhalb der Ansichten und Bewertungsmaßstäbe der Christen „wohnt“ hier das Letzte hinter allem, das tiefe Geheimnis, das Heilige, wofür nicht nur für Christen die Chiffre „Gott“ steht – ein persönliches Sein in verborgenster Verborgenheit, aber auch in gnadenhafter Erschließung und Entäußerung in Jesus Christus.

 

Unser existentieller Nexus hat also mit dem nicht aufhellbaren Bereich, mit dem großen Unbekannten, mit dem Verborgenen des Daseins zu tun. Da gibt es etwas in uns, eine Begabung, eine Unruhe, eine Spannung, eine Neugier, ein Hunger und  Durst, Affekte also, die mit uns mitlaufen, die wahrnehmen, die begreifen wollen. Da ist eine Anlage, eine Fähigkeit in uns, aber auch ein Druck und ein Wille, der eine Richtung hat, der nach vorne strebt, der eine Hinwendung, ein Interesse enthält. Und da gibt es dieses Verborgene im Dasein, das ebenso mitläuft, das gefühlt wird, das uns juckt, uns entgegenweht, uns lockt - so wie alles Geheimnisvolle lockt, aber uns auch rüttelt und schüttelt.

 

 

Das Besondere unserer Geistigkeit, sich einen Begriff vom Letzten zu machen und Gefühle, Einstellungen und Verhaltensweisen zu entwickeln

 

Unsere Geistigkeit ist nun in der Lage, dieses Verborgene auf einen Begriff zu bringen, es zu markieren und zu thematisieren. Mit der Verstehenshilfe unserer Begriffe äußern wir uns dazu. Wir sind zumindest dazu fähig, uns einen Begriff von dem zu bilden, was uns da entgegen kommt. Wir können sogar einen Begriff dafür bilden, was unbegreiflich, undefinierbar ist. Wir bieten dem Verborgenen Begriffe an. Wir entwickeln für das Verborgene eine begriffliche Gestalt. In der Denkwelt vieler Menschen und der ganzen Menschheitsgeschichte geht es so zu. Wir haben den Drang - und oft gleichzeitig die Scheu -, diesem Verborgenen Namen zu geben. Nicht zu laut, eher stammelnd wird dann benannt, erläutert, gedeutet, bewertet. Dieser Bereich des Verborgenen ist erfahrungsgemäß mit vielen Bildern und Metaphern belegt: Gehandelt wird hier mit einem „etwas“ und begrifflich dargestellt, ein „etwas“, was mitgeht, was uns angeht, was hinter, vor, neben, über, unter uns ist, was aber auch allem voraus liegt oder was alles abschließt. Oder mit Begriffen wie Geheimnis, Rätsel, großes Unbekanntes, Verborgenes, Hintergründiges, Letztes, Ganzes. Das sind alles Versuche des Verstehens und Verhaltens zu etwas, was benannt, aber letztlich nicht begriffen werden kann. Wir reden vom großen Unbekannten – doch wenn dieses schon unbekannt ist, haben wir als geistbegabte Wesen wenigstens einen Begriff davon, den wir jeweils natürlich von unseren menschlichen Begreifbarkeiten ablesen und mit deren Inhalten füllen. Wir bleiben also in unserem menschlichen Rahmen. Wir nehmen aber insgesamt über unsere Begriffe bereits eine mehr oder weniger vage Kommunikation wahr, eine Kommunikation aber mit dem uns geschenkten oder erarbeiteten Entwurf.

 

So wie wir Begriffe entwickeln, entwickeln wir natürlich auch Gefühle, Bewertungen und Verhaltensmuster dem Unbekannten gegenüber. Wir bewerten den Hintergrund, wir suchen ihn zu beeinflussen, zu manipulieren, in den Griff zu bekommen, uns unter seinen Schutz zu stellen, wir versuchen aus dem Gebiet Hinweise zu erhalten, wir stehen vor verschlossenen Toren, wir warten, dass sich ein Tor öffnet. So entsteht ein Weltbild. So schafft sich der Mensch eine gedankliche und pragmatische Form des „Inderweltseins“ (40).

 

Manche bleiben bei diesen relativ ungefüllten Begriffen stehen, obwohl auch diese bei näherem Hinsehen bereits eine nicht übersehbare erste Weltanschauung ergeben. Andere halten die relative Abstraktheit der Begriffe nicht aus und beginnen analog zu ihren menschlichen Erfahrungen und Projektionen mit dem Auffüllen. Sie legen den bisherigen Begriffen etwas unter. Worte und Sätze bekommen ein Feld. Wir bezeichnen das Letzte mit persönlichen und unpersönlichen Bezeichnungen. Dann ist das Letzte wie ein liebender Vater, eine fürsorgliche Mutter, ein liebender Partner, ein frohes freundliches Kind, ein großer oder tiefer Geist. Oder ein Fels, die Ruhe im Sturm, der Motor des Lebens usw.

 

So entwickeln wir ein Gefühl dem großen Unbekannten gegenüber bzw. es stellt sich ein Gefühl ein, es entsteht eine Gefühlsbeziehung. Und noch etwas: Wir neigen dazu, dieses Letzte, Verborgene, große Unbekannte im Rahmen unserer Muster zu bewerten. Das Tiefste kann so als Gegner gefühlt und bewertet werden: unfreundlich, schmerzend, gefährlich, beängstigend, inakzeptabel, abstoßend. Es kann verunglimpft, abgewiesen, verflucht, für wert- und bedeutungslos erklärt werden. Es kann aber auch als Freund verstanden, es kann angenommen werden und Zustimmung erfahren. Es kann als grundlegende Güte oder als Liebe beschrieben werden, als etwas Vertrautes, Heiliges, Heilendes, oder poetisch als ein Lächeln usw. Der Mensch kann vor diesem Letzten das Gefühl haben, beschenkt, begabt, bestätigt zu sein. Er kann, wie es Tilman Moser treffend ausdrückte, eine „Fähigkeit zur Andacht“ (41) vor diesem großen Unbekannten entwickeln. Er kann sich dem Tiefsten anheim geben, er kann es aber auch benützen, manipulieren, über es verfügen oder sich vor ihm schützen. Er kann auch dauernd mehr wissen wollen, als er zu seiner Lebensbewältigung braucht. Er kann sich aber auch von der Füllung seiner Begriffe in die Irre führen lassen. Er kann auf eine Offenbarung warten – ein Leben lang oder viele Jahrhunderte. Schließlich kann das Tiefste aber auch ambivalent gedacht werden, als gut und böse zugleich, als mysterium tremendum et fascinosum (furchteinflößend und faszinierend), beides zugleich, mit oder ohne Akzentuierung und eindeutige Prioritätensetzung.

 

Bezeichnungen und Bewertungen sind das Ergebnis eines recht komplexen Geschehens. Sie sind davon abhängig, wie uns das Leben begegnet ist und welche Antworten diese Begegnungen hervorgerufen haben. Also: Aus der beständigen und umfangreichen Begegnung mit der Wirklichkeit, aus unseren breiten, vielgestaltigen und persönlichen Beziehungen zum Leben, aus der riesigen Zahl der Lebenserfahrungen und unseren Antworten sind geistige Erkenntnisse, Gefühle, Empfindungen und wertende Einstellungen entstanden, die dann wieder zu Prämissen unserer Weltsicht und Lebensführung wurden. Was dabei alles mitgewirkt hat, ist in späteren Lebensjahren meist nicht mehr erkennbar. Wir haben so viele Signale empfangen, deren Bedeutung nicht immer klar war. Unsere Reaktionen darauf haben wieder unsere Umwelt, uns selbst und unser Verständnis von Umwelt und uns selbst beeinflusst, so dass dauernde und vielfältige Wechselwirkungen von höchster Komplexität stattfanden usw. Solches passiert weiterhin jeden Augenblick. Und so geht es weiter. Neues Wissen wird uns zugespielt. Daten werden uns gereicht, Eindrücke belagern uns – und umgekehrt erwerben wir neues Wissen, sammeln Daten und speichern Eindrücke. Sinnvolles und Sinnloses erleben wir, Eindeutiges und Vages. Manches hat sich verfestigt, anderes ist im Fluss geblieben. So gibt es eine ständige Bewertung und Verwertung, eine beständige Aktualisierung unserer Grundempfindungen, Gefühle und Bilder. Es sind subjektive Bewertungen, die eingestandenermaßen auch massiv von der Güte und Sinngebung der Umwelt abhängen, in der wir aufgewachsen sind. Sie können sich jederzeit in Teilen oder total verändern.

 

In der Art der Tönung unseres Lebens begegnen wir dann häufig auch dem Letzten. Diese Art ist gewachsen nach vielen bewussten, halbbewussten und unbewussten Zwiegesprächen mit uns selbst, mit unserer Mitwelt und Umwelt.

 

Die Bedeutung der Religionen – die Bedeutung des Christentums

 

In erster Linie füllen Religionen den letztlich nicht aufhellbaren Bereich des Lebens aus. Religionen haben zuerst begriffen, dass Ungefähres und Abstraktes schwer auszuhalten sind und nach Erweiterung und Ergänzung bzw. nach einer abgerundeten Gestalt drängen. Mit ihren Traditionen, mit ihren Sinn- und Wertsetzungen, mit ihrem axiomatischen Boden, mit dem reichen Schatz ihrer an Leben und Geschichte erprobten Erfahrungen, aber auch mit ihren Vermutungen, ihren oft nicht mehr nachvollziehbaren Erstarrungen, Selbstfesselungen, Unverständlichkeiten und Komplexitäten stehen sie vor uns. Begriffe, Gefühle, Ahnungen, Erwartungen haben hier ein Feld, eine Kontur bekommen. Religionen bebildern unser Leben und verfügen über unzählige informative und prägende Geschichten und Rituale. Über oft relativ leere und undeutliche Begriffe hinaus bringen sie umfangreiche und differenzierte Ausschmückungen und Veranschaulichungen. Unter der Chiffre „Gott“ finden wir z.B. das Verborgene und Geheimnisvolle – und zugleich immer wieder auch Geborgenheit und Heimat.

 

Die Qualität der Bilder erstreckt sich von bereichernd über bedenkenswert bis bedenklich. Bilder müssen sich heute unbedingt dem Bewertungsmaßstab von Erich Fromm fügen, den ich hier nochmals wiederhole: „Die Frage lautet nicht:“, argumentiert Fromm, „ob Religion oder ob nicht?, sondern: welche Art von Religion?“ (42). Fördert Religion, fördern ihre Bilder die Entwicklung und Lebensgestaltung des Menschen oder lähmen sie? Manche Religionen haben sogar ein generelles Bilderverbot für ihre Mitglieder erlassen, um einer Verfügung über das Unverfügbare entgegenzuwirken. Hier erwähne ich auch die Erfahrung, dass die meiste Religionskritik nichts anderes ist als Bilderkritik.

 

Die monotheistischen Offenbarungsreligionen zeichnen sich nun u.a. dadurch aus, dass sie ein ganzes Füllungspaket liefern. Ich bin mit dem Paket des katholischen Christentums aufgewachsen, auf das ich mich hier ausschließlich beziehe. Die Grundform und die Grundgehalte dieses Paketes bestechen, tragen und prägen mich auch heute noch. Ich lasse hier einmal beiseite, was ich an Unzumutbarem längst zu den Akten gelegt habe. Ich bin also schon sehr früh in meinem Leben über das Beispiel meiner Eltern und die schöne Kirche meiner Kindheit und Jugend in einer Sinn- und Wertegemeinschaft aufgewachsen, über die ich heute noch froh bin und die ich, wie bereits erwähnt, in der großen Linie noch heute gerne und überzeugt vertrete. Ich brauche in meiner religiösen Schublade nicht lange herumkramen, bis sich ähnliche Einschätzungen, Bilder und Aussagen zeigen, wie ich es bei den oben angeführten Psychologinnen und Therapeuten erlebt habe. Was beispielsweise die Anthropologie, was die Bilder vom Menschen betrifft, ist mir schon in jungen Jahren durch das erlebte und verkündete Christentum eine vortreffliche Grundausstattung zugeflossen, die ihresgleichen sucht: Gewöhnliche Menschen nennen sich „Geschöpfe Gottes“, „Kinder Gottes“, Ebenbilder Gottes“, „Brüder und Schwestern“, „Heilige“, „Geliebte“ usw. Sie beten oft täglich: „Vater unser im Himmel, geheiligt werde dein Name, dein Reich komme, Dein Wille geschehe“. Das Hauptgebot der Liebe ist für Unzählige ein kraftvoller lebenslanger Wegweiser geworden. Christen vertiefen sich in biblische Geschichten zur Umsetzung einer umfassenden Geschwisterliebe und unterstellen sich Handlungsanweisungen, die sich an der Barmherzigkeit eines einfachen Samariters orientieren. Sie hören und befolgen „Geh hin und handle genauso“! Und sie finden immer wieder Halt und Geborgenheit in einem Gott, „der seine Sonne aufgehen lässt über Bösen und Guten und regnen lässt über Gerechten und Sündern“ (Mt 5,45). Wer in aller Welt, frage ich, hat schon eine solche Ausgangsbasis!

 

Diese Position aus der Denkwelt meiner Herkunftsfamilie und der „Kirche im Dorf“ wurde später untermauert durch die Überzeugungskraft einer philosophischen, theologischen, spirituellen und pragmatischen Tradition, die es in meinen Augen mit Erfolg geschafft hat, meine Optik zu festigen und zu vertiefen. Und dies, obwohl es im Auf und Ab des Lebens immer wieder massive Herausforderungen gab, die positive Füllung meines Welt- und Menschenbildes zu verwässern. Es gab aber Gott sei Dank auch die vielen spirituellen Wegbegleiter, denen die Rede von der guten Schöpfung Gottes über alles ging, für die Gen 1,31 („Gott sah alles, was er gemacht hatte. Und es war sehr gut“) nicht nur ein liebenswerter Vorspann für eine nachfolgende Unheilsgeschichte war. Bei diesen Wegbegleitern blieb der Mensch der Widerschein und Abglanz der Schönheit Gottes. Dem Menschen ist hier gewissermaßen ein göttliches Antlitz aufgesetzt. Menschen werden generell zu Zeichen, die Gottes Dasein repräsentieren. Ihnen ist eine göttliche Schrift eingeschrieben ist. Sie tragen göttliche Botschaften in sich. In unzähligen wunderbaren Bildern wird Gottes Dasein im Menschen dargestellt: Gott nimmt in uns Wohnung, zeigt sich in uns, tauscht sich mit uns aus, erzählt oder singt von sich, schreit uns an, schenkt sich uns, entflammt uns, entzündet unsere Liebe zu ihm, schenkt sich anderen durch uns und gibt sich uns über andere wieder zurück. In unserer Anwesenheit wird Gott berührbar, hörbar, sichtbar, nicht in unserer Abwesenheit, in unserem Rückzug. Wir sind nicht zur Meditation der Leere, zum Verschwinden, zum Rückzug, zum Absterben da, sondern als Lebendige und Lebensmittel für andere – und umgekehrt. Gott will nicht, dass wir allein sind. Und, was mir besonders gefällt, eine Gottesachtung ohne Menschenachtung gibt es nicht mehr. Dieser Gott ist drinnen und draußen, erfahrbar, abholbar, aber auch abrufbar, wo sich Menschen als Boten Gottes und als gute Botschaft für andere verstehen. So werden wir als fähig, geeignet und auch verantwortlich definiert, dass andere Gott über uns entdecken – dürfen uns aber auch über die Entdeckung Gottes freuen, wenn sie uns über andere geschenkt ist. Und eine letzte Bemerkung: Im Menschen will Gott geachtet sein, im Menschen will Gott gut behandelt werden. Nichts anderes meint der Satz Jesu: „Was ihr dem Geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan“ (Mt 25,40).

 

Ich sehe es auch als Glücksfall an, im Rahmen meiner religiösen Sozialisation an ein personales Gottesbild herangeführt worden zu sein. Ich kann in Bezug auf meinen Standpunkt nicht besser und verständlicher argumentieren, als es Bernardin Schellenberger getan hat, den ich gerne zitiere:

„Es hat keinen Sinn, über `Gottesbilder´ zu streiten, weil alle falsch sind. Von Gott gibt es kein Bild … Der, die oder das Unfassbare ist unfassbar. Aber es gibt eine Beziehung zu ihm oder ihr. Das behaupten Juden- und Christentum (und von ihnen übernahm es der Islam). In der östlichen Orthodoxie gibt es die Vorstellung, Gott bleibe im Geheimnis, manifestiere sich aber in seinen `Energien´, also seinen Wirkungen auf die Menschen. Wir können sie nur mit unseren menschlichen Sensorien wahrnehmen. Die dafür geeignetsten sind meiner Überzeugung nach die Qualitäten, die den Menschen als Person ausmachen. Folglich nehmen wir auf personaler Ebene den oder die wahr, der oder die natürlich nicht `Person´ in der Art ist, wie wir es sind. Zudem gilt im Christentum Jesus Christus als das `Bild´ Gottes schlechthin. An ihm kann man Etliches ablesen, in welche Richtung Gott am ehesten vorzustellen wäre. Aber sogar in ihm, in seiner irdischen Existenz, blieb Gott weithin verhüllt. Zu seinen Lebzeiten erkannten ihn deshalb nur wenige. Man erkennt ihn nur, wenn man sich auf das innere Gespräch mit ihm einlässt, auf dem Weg über die Schriften, die von ihm berichten. Dann kann jene Dimension des `Zwischen´ entstehen, in der man ihm begegnet, von ihm fasziniert wird und etwas gesagt bekommt, nicht akustisch, aber unverkennbar“ (43).

Ich nehme gerade den Satz von Bernardin Schellenberger wohlwollendst zur Kenntnis, dass man über das Studium der Erscheinung Jesu und die darauf aufbauende Beziehung Etliches ablesen kann, in welche Richtung Gott am ehesten vorzustellen wäre.

 

Ich könnte trotz aller faktischen Umsetzungsprobleme in der Christenheit und im Leben der einzelnen Christen mit weiteren Einlassungen auf die Kostbarkeiten meiner Religion fortfahren. Mein Glaube ist aber nicht nur von Bildern ausgeleuchtet und bestimmt. Er ist letztlich mit der Wortwahl von Tomás Halík ein ganz „bestimmter Bezugstypus zur Wirklichkeit“ (44), „ein „Lebensstil“, “dessen tiefreichende Dimension die Spiritualität bilden wird“ (45). Dann sagt Halík aber auch klipp und klar: „Der zweite herausragende Zug wird die Solidarität sein, insbesondere die Solidarität mit denjenigen Menschen, welche in jeglicher Gesellschaft zu kurz kommen“ (46). Halik schaut, was er aus den Bildern des Christentums schöpfen kann. Er möchte diese Bilder niemanden aufdrängen, er möchte sie auch nicht im Sinn eines wissenschaftlichen Nachweises verkaufen, sondern als Denkwelten und Lebensanstöße, die etwas für sich haben. Er stellt sich damit in eine Reihe mit Teilhard de Chardin, der den Glauben als eine bestimmte Haltung, als eine bestimmte Orientierung der Existenz, als bestimmte Wertschätzung der Welt, als Achtung, Demut, Verantwortlichkeit und Treue definiert hat.

 

Als erwachsener Christ ist es nicht mein primäres Problem, dass sich im christlichen Angebot auch Bilder und Ergebnisse einer Sünden-, Verdammnis- und reaktiver Erlösungstheologie befinden, die oft genug zu neurotischen Schieflagen geführt haben, von denen ich auch kurzzeitig ideell betroffen war und immer noch nachhaltig in meinen Alpträumen betroffen bin. Heute halte ich mich für einigermaßen klug genug, mich von unreflektierter und unkontrollierter Theologie fernzuhalten. Mein Problem ist auch nicht die Tatsache, dass es Christen gibt, die schlafen, nachhinken oder die Logik des Christseins durch Schuld und Verstrickung untergraben. Das primäre Problem bin und bleibe ich und mein Bezug zu einer echten und gelungenen christlichen Existenz. Aber sogar der kritische Tilman Moser gesteht mir und meinesgleichen eine Fähigkeit zu, die darin besteht, „sich und die irdischen Verstrickungen zu transzendieren“ (47).

 

Das, was dahinter ist, das Verborgene, das Nicht-Aufhellbare und der Bezug zu ihm ist ein ununterbrochener geistesgeschichtlicher Dauerbrenner. Die Sache ist so alt wie die Menschheit. Das Gebiet ist gesättigt mit unzähligen Fazetten von Füllungen, Bildern und Bezügen. Die Beiträge sind unüberschaubar. So kommt man immer wieder bei der Thematisierung des Verborgenen an einen Punkt, wo sich alles im Kreise dreht und wo es notwendig ist, wieder in das ganz normale Leben einzusteigen. Dieses Gebiet, wo es um Letztes geht, ist wirklich ein wahres Feld zum Sich-Verlaufen. Theisten verlaufen sich, Atheisten ebenso. Es wird wohl so sein müssen, wenn man es zu genau wissen will. Zurückhaltung ist also angesagt, dazu Staunen und ein glaubendes, hoffendes und liebendes Ahnen.

 

Letztlich ist hier jeder ganz persönlich gerufen, zu entscheiden, was wichtig und beachtenswert ist. Es muss einfach genügend gut sein. Spiritualität bedeutet dann nichts anderes als ein qualifiziertes Verhalten zu unserem Dasein. Und dieses ist Geschenk und Leistung. Über das „Nicht-nicht-Verhalten“ und das Ringen um Qualität muss dann immer wieder auch gesprochen und Rechenschaft gegeben werden. Gerade Menschendiener jeder Couleur müssen zeigen, was sie berührt, führt und trägt, und was sie bei ihrer Arbeit gesehen, gehört, gespürt haben.

 

Anfechtungen gegen ein positives Welt- und Menschenbild

 

Wo treffen sich heute Therapie und Theologie, Psychologie und Religion? Das ist eine Frage, die mich schon immer interessiert hat. Natürlich weiß ich auch um die Punkte, wo Psychologinnen und Therapeuten zu religiösen Einstellungen und Praktiken Nein sagen bzw. ihre Bedenken äußern müssen. Ich weiß nur zu gut, wie sehr auch dominante Theologie von kulturbedingten Konstruktionen lebt. Auf eine Konstruktion will ich noch in aller Kürze hinweisen, auf die ich immer wieder stoße – und an der nicht nur ich mich vehement stoße. Es handelt sich um ein durch die Theologie sich immer noch durchziehendes und sich hartnäckig behauptendes pessimistisches Menschenbild, das sich an erfahrene Menschenkenner nicht banal und undifferenziert verkaufen lässt. Dieses Menschenbild favorisiert einen biblischen Detailbefund, der immer wieder so dargestellt wird: Das Bild des Menschen vom Buch Genesis bis zur Geheimen Offenbarung, das Bild, das die Menschen des Anfangs der Schrift – Adam, Eva, Kain, die Zeitgenossen der Sintflut, die Turmbaufantasten von Babel etc. – und die Menschen des letzten Buches – Irrlehrer, Abgefallene, römische Gewaltherrscher, die Hure Babylon usw. – abgeben, dieses Bild sagt doch in seinen vielen Variationen: Die Entartung des Menschen ist offensichtlich. Der Mensch ist aus den himmlischen Sphären herausgefallen. Und die erfahrene Realität scheint dieser Sicht auch Recht zu geben. In einer solchen Anthropologie ist eine allmächtige Gegenwelt zur Güte der Schöpfung etabliert, für die u.a. das Stichwort Erbsünde steht. Da liest man dann biblische Sätze wie: „Da reute es den Herrn, den Menschen gemacht zu haben“ (Gen 6,6), weil Gott sah – was wie eine Ontologie, wie eine Seinsbeschreibung klingt -, „dass alles Sinnen und Trachten seines Herzens immer nur böse war“ (Gen 6,5). Der Zugang zur Sicht eines guten Ursprungs ist hier verloren gegangen. Ein anderer Weltentwurf ich entstanden. Welt und Mensch werden jetzt auf der Basis dieses Entwurfes zu verstehen, zu denken, zu bewerten und zu verändern versucht. Sogar der gute Ernesto Cardenal attestiert im Blick auf die Konstruktion „gefallene Natur“: „Auf dem Grund der Dinge ist Bitterkeit und Weinen“ (48). Und Albert Görres, Arzt, Psychotherapeut und Philosoph bringt seine biblisch fundierte Anthropologie – wie bereits oben erwähnt - auf den Nenner: „Es ist die biblische Botschaft, die dem Menschen sagt, dass er nicht viel taugt“ (49). Manchmal findet man zwar noch ein kleines Ja zum Menschen, ihm folgt aber meist sofort ein großes Aber ... Die Folgen dieser Bilder für die Lebensgestaltung, für menschliches Selbstverständnis, Selbstliebe, Nächstenliebe usw. sind katastrophal. Legt man diese falsche Theorie zugrunde, dann gibt es hier kein wahres Leben mehr. Das Thema „Gefährliche Ideen“ ist wieder einmal eröffnet. Es gibt auch eine Theologie, die sich zu weit vorgewagt hat, bzw. hinter die Realität zurückgetreten ist …(50). Hier wird dann auch ein gemeinsamer Treffpunkt mit Psychologie und Therapie schwierig. Natürlich sind auch diese Fächer nicht ideologiefrei und unverdächtig. Überall gibt es Überziehungen. Und es gibt das Versagen der Funktionäre, für das richtige Klima zu sorgen.

Etwas ist selbstverständlich nicht zu leugnen: Die größte Anfechtung für ein tragendes Menschenbild und das größte Plus für eine pessimistische Anthropologie ist die jeweils erfahrene konkrete Wirklichkeit. Die Erfahrung ist voll von Einwänden gegen ein gutes Programm. Das gilt für die mythischen Zeiten des Noah, für die Verfolgungszeiten der Apokalypse und genauso für heute. Für unsere Makrowelt brauche ich nur anführen, dass der Mensch zur größten Existenzbedrohung für seinen Lebensraum und für seine Mitmenschen geworden ist. Wir leiden zudem am würdelosen Leben vieler Mitmenschen und sehen viele, die unter ihrer Würde leben. Es gibt die tägliche Erfahrung der Verlorenheit vieler Menschen: „Wieder nichts“! „Wieder nichts zu holen!“ Im therapeutischen Raum erlebe ich es täglich, dass Frauen die Bedeutung ihrer Männer für ihr Elend schildern und die Männer die Bedeutung ihrer Frauen für das ihre Ich erlebe, wie Kinder ihre Eltern anklagen und Eltern über ihren Nachwuchs jammern. Ich erlebe, wie viele Zeitgenossen weit davon entfernt sind, in der Wortprägung von Martin Heidegger das „Haus des Seins“ zu bauen. Darum geht es allen Ernstes um das Wiederfinden einer neuen Inhalts- und Umgangskultur, um einen neuen Zugang zu dem, was uns ausmacht und wie wir schließlich für das Wohl und nicht für das Elend der Anderen verantwortlich werden können. Für eine wahre Humanisierung brauchen wir die klaren und einfachen Grundbilder. Die Tiefe braucht klaren Vorrang vor der Oberfläche und der gute Inhalt klare Priorität vor der oft schäbigen Verpackung.

 

Therapie und Religion haben ein gleiches Grundanliegen

 

Therapeutinnen und Theologen haben also das gleiche Thema, das gleiche Objekt ihres Tuns: die Kommunikation mit dem Dasein. Beide kommen um ihr und der Klienten Eingebundensein in die Existenz nicht herum. Es gibt keine Null-Kommunikation mit dem Dasein. Eine Reihe von Therapeutinnen und Therapeuten hat zudem ein Theologiestudium hinter sich, bzw. Theologinnen und Theologen mannigfache therapeutische Weiterbildungen. Beide drückt das Thema Spiritualität. Beide fühlen sich verantwortlich für eine qualifizierte Spiritualität, in der Logik, Ethik und Effizienzkontrolle von Bedeutung sind. Beide können ihre jeweilige Verortung und die Verortung ihrer Klienten und Ratsuchenden aufmerksam, wohlwollend und kritisch begleiten. Ebenso die Art der Kommunikation, die Bilder und Ideen, die Geschichten und Wertsetzungen, die Rituale und Lebensanleitungen. Sie können sich äußern, worum es wirklich geht, was dem Leben dient, was zentral und was peripher ist, wo der Mensch in seinem Element ist usw. Und sie können zusammen reflektieren, wo man einkaufen kann, welcher Philosophien man sich bedient, um sich auszudrücken, aber auch, welche Ideen und Theorien abgelaufen sind bzw. welche gefährliche Folgen Unbedachtes und Abgelaufenes nach sich ziehen. Die Möglichkeiten der Zusammenarbeit sind zahlreich. Und die Demut vor dem Großen des Daseins könnte sich als besonders wirkungsvoll erweisen und so manche Erkenntnisse relativieren.

 

Résumé: Die eine Wirklichkeit und die verschiedenen Schulen

 

Es gibt nur eine Wirklichkeit, aber verschiedene Schulen, die diese Wirklichkeit deuten. Eine Null-Deutung, eine Deutungsabstinenz gibt es nicht. Ich habe meine Schule dargestellt. Für sie gibt es gute Gründe und die Ergebnisse sprechen auch für sich. Ich will jeden, der es will, in meine Denkwelt schauen lassen. Mein Denken sucht eine Antwort für mich und für Menschen, deren Bewusstsein sich auf dem rationalen Niveau der Zeit bewegt, die sich eine saubere Logik, intellektuelle Redlichkeit und Orientierung an der Wirkung erwarten.

 

Verwöhnt durch die Logik der materiellen Gesetze ist in den letzten Jahrhunderten ein Glaube an die tiefe Logik und Verlässlichkeit der Materie entstanden, der bisher auch durch menschlichen Missbrauch nicht erschüttert wurde. Parallel zur offenkundigen Logik im Bereich der Physik und Mathematik und der Anerkennung, die diese Logik genießt, geht es nun Gottseidank in jüngster Zeit immer stärker auch um die Suche nach der Logik im Bereich des Lebendigen und des Menschlichen, um die Suche nach Sinn und Sinnbildern für ein Leben zwischen Geburt und Tod, für ein Leben mit Werden, Bleiben, Wachsen und Vergehen, für ein Leben mit Umwelt und Mitwelt. Wir brauchen Daseinsentwürfe, die auch die menschliche Wirklichkeit und ihre Potenzen in den Blick nehmen, die davon angetan sind und diese voll ausschöpfen wollen, Daseinsentwürfe, die sich nicht durch defizitäre oder exzessive Anwendungen aus der Ruhe bringen lassen, Sinnbilder, die Richtung weisend für unser Denken und Handeln sein können. Warum sollte da nicht ein neues Nachdenken über die Natur des Menschen auf eine Theologie zurückgreifen, die auf dem biblischen Satz aufbaut: „Gott sah alles, was er gemacht hatte. Und es war sehr gut“ – Adam und Eva inclusive! Ich wünsche mir, dass solche Texte nicht zu „postlagernden Briefen“ (51) werden, wie es Peter Sloterdijk im Bezug auf die Schriften der alten Weisen befürchtet.

 

Wenn man mit dem Glauben an das Gutsein des Anfangs, mit dem Glauben an das bleibende Gutsein in der Tiefe und mit dem Glauben an das gute Ende zu arbeitet, – bestärkt auch dadurch, dass diese Sicht und diese Haltung durch und durch der Mission des Begründers des Christentums entsprach - dann sehe ich immer wieder die Resonanz, wie positiv sich diese Annahme in der konkreten Arbeit auswirkt. Gute Bilder und Einstellungen und ein Wissen, „dass es jemanden gibt, der seine Hand schützend über uns hält und uns den richtigen Weg weisen wird“ (52), sind für die Gestaltung unserer Existenz äußerst vorteilhaft. Dann kommen gute Kräfte zum Zug, die größer sind als wir, die uns nicht zu Gebote stehen, die wir nur kommen lassen dürfen. Und es kann sich täglich etwas entwickeln, was uns staunen lässt. Niemand kann es besser sagen als der Therapeut Hunter Beaumont, was dann immer wieder passiert: „Wenn mir das gelingt, das, was in der Tiefe wirkt, zu erkennen …, dann überflutet mich manchmal ein Gefühl der Dankbarkeit und Hoffnung …, aber wenn Dankbarkeit und Hoffnung da sind …, geht es mir sehr, sehr gut“ (53). Seelsorgerische und therapeutische Arbeit werden so zur Begleitung des Menschen zu seinem wahren Wesen, zu seinem Gutsein, zu seiner Identität und auch zu einer tiefen Bereicherung der vorübergehenden Begleiter.

 

Ich schließe - und treffender kann man wohl nicht schließen - mit einem Bekenntnis von Rainer Maria Rilke:

„Und da bekenne ich denn …, dass ich das Leben für ein Ding von der unantastbarsten Köstlichkeit halte und dass die Verknotung so vieler Verhängnisse und Entsetzlichkeiten … mich nicht irre machen kann an der Fülle und Güte und Zugeneigtheit des Daseins“ (54).

 

Zum Anfang des Artikels >>>

 

 

Anmerkungen

 

30 Paul Watzlawick u.a., Menschliche Kommunikation, Bern-Stuttgart-Toronto 1990

31 Ebd. 239

32 Ebd. 240

33 Ebd. 240

34 Ebd. 53

35 Ebd. 13

36 Ebd. 85

37 Ebd. 84

38 Elisabeth Lukas, Lehrbuch der Logotherapie, Vorwort von Paul Heinrich Bresser,

     Stade 2006, 9

39 Albert Einstein, zit. im Internet unter www.vuksanovic.de

40 Paul Watzlawick u.a., Menschliche Kommunikation, Bern-Stuttgard-Toronto 1990, 244

41 Tilmann Moser, Von der Gottesvergiftung zu einem erträglichen Gott, Stuttgart 2003, 23

42 Erich Fromm, Psychoanalyse und Religion, München 1985, 31

43 Bernhardin Schellenberger in Publik-Forum Extra „Gott ist anders. Du sollst dir kein

     Bildnis machen“, Publik-Forum Verlagsgesellschaft mbH, 2007, 34

44 Tomás Halík, Nachgedanken eines Beichtvaters, Freiburg im Breisgau 2012, 27

45 Ebd. 189

46 Ebd. 189

47 Tilmann Moser, Von der Gottesvergiftung zu einem erträglichen Gott, Stuttgart 2003, 42

48 Ernesto Cardenal, Ufer zum Frieden, Jugenddienst-Verlag Wuppertal 1977, 12

49 Albert Görres, Kennt die Religion den Menschen, München 1984, 84

50 Siehe Lorenz Zellner, Gottestherapie, Das Menschenbild Jesu, München 1995, 190 ff.

51 Peter Sloterdijk, Regeln für den Menschenpark, Frankfurt am Main 1999, 55

52 Gerald Hüther, zit. in Christ in der Gegenwart Nr. 22/2013, 8

53 Hunter Beaumot, Auf die Seele schauen, München 2008, 136

54 Rainer Maria Rilke, zit. in Franka Kopp, Axiomatisierung in der poetischen Produktion

     - Rilkes und Brechts „axiomatisches Feld“, Berlin 2002, 171