Lorenz Zellner

 

Vernunft und Glaube

Die Vernunftbegabtheit des Menschen und die Verantwortung der Theologen

 

(S. 50 - 62 im Buch „Ich bin auf den Grund gegangen – aber nicht zugrunde“)

 

1 Der Adel unseres mentalen Lebens                                                                         2

 

Für welche Art von Leben sind wir gemacht?                                                               2

Eine Hymne an den Verstand?                                                                                      2

Vielseitige Beschreibungen                                                                                           4

Unsere Geistigkeit entspricht der Geistigkeit der Wirklichkeit                                    4

Ein wenig Stolz ist erlaubt                                                                                           4

Gabe und Aufgabe zugleich                                                                                          5

Lob der Wissenschaft                                                                                                    5

Die geistige Qualität der Weisheit                                                                                6

 

2. Die Kirche leistet sich ein Denkorgan: Die Theologenschaft                              7

 

Hohe Wertschätzung des Denkens                                                                                7

Solide Absicherung durch Schrift und Tradition                                                          7

 

3. Zweck und Aufgabe einer wissenschaftlich betriebenen Theologie                    8

 

Eine Theologie, die Wissenschaft sein will, muss sich ihrer Voraussetzungen
bewusst sein                                                                                                                    8

Theologie muss die innere Logik der Religion gewährleisten                                        8

Theologie muss ein Bewusstsein entwickeln von dem, was man hat                              9

Theologie muss ein Bewusstsein entwickeln von dem, was fehlt                                    9

Theologie muss ihr Kerngeschäft der jeweiligen Zeit kreativ vermitteln                     10

Theologie muss den Eindruck von einer doppelten Wahrheit vermeiden                     10

Theologie muss das Gespräch mit dem Wissen der Zeit führen                                   11

Theologie muss ein Bewusstsein dafür schaffen, was Theologie herabwürdigt           12

Kirchenamt und Theologie müssen mit den Laien rechnen                                          12

Anmerkungen                                                                                                                13

 

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1 Der Adel unseres mentalen Lebens

 

Für welche Art von Leben sind wir gemacht?

 

Die Frage ist und bleibt spannend: Für welche Art von Leben sind wir gemacht? Was sind wir von Natur aus? So fragt etwa der Gehirnforscher, Mediziner und Psychotherapeut Joachim Bauer in seinem Werk „Prinzip Menschlichkeit“ (1): Sind wir, was die soziale Dimension unseres Lebens betrifft, auf Egoismus, Konkurrenz und Kampf eingestellt – oder auf Kooperation und gelungenes Miteinander? Bauer sagt eindeutig Ja zu einem auf Zusammenarbeit ausgerichteten Menschsein, zu mitmenschlicher Zuwendung, Wertschätzung und Liebe und belegt sein Ja mit den Ergebnissen der modernen Neurobiologie. Er zeigt überzeugend, wie die Wahrheit ausschaut, die unserer sozialen Dimension entspricht.

 

Für welche Art von Leben sind wir geschaffen? Was sind wir von Haus aus, wenn es aber um die geistige Dimension unserer Existenz geht? Sind wir, so fragt die wissenschaftliche Anthropologie, auf Schlafen und Träumen, auf alle möglichen Torheiten und auf die Barbarei des Irrationalen, des Ungefähren, des Einseitigen, des Verrückten hin geschaffen - oder auf die Königswürde des Denkens, des Verstehens, der Erkenntnis, der Vernunft, der Einsicht, des Wissens und der Weisheit hin angelegt? Eine realistische und kundige Beobachtung des Lebens sagt eindeutig Ja zu einer vernünftigen Ausrichtung des Lebens und zur Würde und zum Adel unseres mentalen Lebens. Ebenso lautet auch eine gute Nachricht aus dem Lager der Theologie: Wir Menschen sind im Grunde vernünftige Wesen. Wir sind begabte, aber auch geforderte Denker. Und manche von uns werden weise.

 

Ich möchte mit diesem Beitrag ins rechte Licht rücken, zu welcher Größe wir durch die Gabe unseres Verstandes geschaffen und gerufen sind. Ich verstehe die folgende Würdigung unseres mentalen Lebens als persönliches Bekenntnis, als gute Botschaft, die ich weitersage, als engagiertes Plädoyer und schließlich als Baustein für ein Loblied, für eine „Hymne an den Verstand“.

 

Eine Hymne an den Verstand ?

 

Es mag nun manchem als völlig übertrieben vorkommen, unsere Verstandesbegabung, unsere Fähigkeit zu denken, zu feiern, eine Hymne an den Verstand zu erwägen und unsere Vernunftbegabung mit dem Qualitätsmerkmal einer frohen Botschaft, eines Evangeliums zu versehen. Zu wirkmächtig ist, wie bereits oben erwähnt, die Barbarei des Irrationalen, zu gewaltig sind die geistigen Torheiten der Menschen, zu erschreckend liegt die vielseitige menschliche Naivität vor unseren Augen, zu brutal agiert heute eine kalte und auf inhumane Ziele ausgerichtete Zweckrationalität. Und zu oft vermissen wir intellektuelle Redlichkeit und eine gesunde und saubere Logik, die darin besteht, dass sich ganz einfach „Auffassungen vertragen“, wie Karl Rahner es einmal formulierte. Zudem lässt erfahrungsgemäß menschliche Bequemlichkeit Tag für Tag zu viele geistige Möglichkeiten brach liegen, wo doch Geistigkeit von der Aktivierung, vom Benützen, vom Üben, vom Training lebt und ebenso von der Auseinandersetzung mit den vielen Objekten und Zuständen des Lebens und deren Integration in unsere ureigenste Wirklichkeit. Leben muss ja einverleibt und eingeordnet werden. Sonst kommt es nicht zur Entfaltung, bleibt unkultiviert und verkümmert.

 

Mentales Leben kann natürlich auch in die Irre gehen, man kann sich ihm verschließen, man kann die Skepsis übertreiben, die eigenen Einsichten abwerten, sich selbst diffamieren, man kann - statt dem eigenen kritischen Denken – zufälligen plakativen Vorbildern und Gurus blind vertrauen und – wie es auch bei religiösen Gruppierungen immer wieder vorkommt -, in naivem Gehorsam das bewusste oder unbewusste Opfer des Intellekts auf sich nehmen. Man kann unserer Geistigkeit aber auch Unrecht tun, indem man die Reichweite des Verstandes überschätzt. Eine kritiklose Anbetung der eigenen Einsichten bzw. ein überheblicher Wissenswahn sind ebenso deplaziert wie eine unkritische Abwertung unserer geistigen Fähigkeiten.

 

Zu groß und zu verdeckt ist natürlich oft auch die Wirklichkeit, die wir begreifen sollen. Der bisher so gelobte gesunde Hausverstand genügt heute meist nicht mehr, um in der Gegenwart wirklichkeitsangepasst da zu sein und Welt und Leben zu verstehen. Der Verwendungsbereich unserer Ratio wird bei der immer schneller sich verändernden und an Komplexität zunehmenden Welt mehr und mehr eingeengt. Noch lange nicht hat das Licht des Verstandes viele Wirklichkeiten grundsätzlich beleuchtet und die dunklen Ecken, Winkel und Abgründe des Lebens genügend gut erforscht. Immer wieder erhebt der große Albert Einstein seinen Finger, ergreift das Wort und mahnt uns zur Demut: Das Gegebene, sagt er, offenbare eine so „überlegene Vernunft“, „dass alles Sinnvolle menschlichen Denkens und Anordnens dagegen ein gänzlich nichtiger Abglanz ist“ (2). Und auch der Gehirnforscher Gerhard Roth sorgt für Nachdenklichkeit, wenn er feststellt, dass unser Bewusstsein zu „extremer Selbsttäuschung“ (3) neige.

 

Trotz all dieser nicht zu leugnenden Fakten bleibe ich bei der Würdigung der Einzigartigkeit und Größe unseres mentalen Lebens, bei meiner Hochachtung, bei meinem Stolz, mit Verstand und Vernunft begabt zu sein, bei meiner Kennzeichnung des Denkens als gute Botschaft. Ich stehe weiterhin zu der Überzeugung: Unsere Geistigkeit bzw. unsere Rationalität ist unter allen Wirklichkeiten, denen wir begegnen, und bei allen Grenzen, die hier gesetzt sind, etwas ganz Großartiges und Herausragendes. Wir Menschen sind mit einem Vermögen ausgestattet, das Wirklichkeit begreift, speichert, ordnet, zu verstehen versucht, auf Folgerichtigkeit und Widerspruchsfreiheit achtet, auf Beweisbarkeit aufbaut. Wir haben eine Fähigkeit, die unser Leben und Handeln leitet, dieses durch vernünftige Begründungen genügend gut stützt und offen ist für Erweiterungen und Optimierungen. Wir sind damit ausgezeichnet, das Sein nachdenken zu können und seine Logik für den Lebensvollzug zu nutzen. Und wir stehen nicht alleine da.

 

Vielseitige Beschreibungen

 

Es ist interessant, genauer hinzuschauen, wie vielseitig dieses Faktum unserer Geistigkeit beschrieben wird: Als anthropologischer Sachverhalt, Charakteristikum des Menschseins, Ereignis, das am Menschen geschieht, das am Menschen zum Vorschein kommt, Teilstück der Natur des Menschen, Systemelement des Menschseins und der Organisation des Menschen, Dimension des Menschseins, unabdingbare Begleiterscheinung des Wesens des Menschen, Anlage bzw. Veranlagung des Menschen, elementare Begabung des Menschen, inneres Prinzip, das Sein zu verstehen und zu gestalten, Kraft, die die Existenz des Menschen bestimmt usw. Schließlich und endlich landen wir dann wieder bei dem vertrauten Begriff „Existenzialien“. Und diese bedeuten, wie bereits früher ausgeführt, Sachverhalte, in denen der Mensch „so sehr wurzelt, dass er sich von ihnen nicht trennen kann, ohne zu verkümmern oder zugrunde zu gehen“ (4). Wo stimmt diese Definition besser als im Bereich des Geistes und des Wissens!

 

So ermöglicht unsere Geistigkeit eine Art der annähernden Teilhabe an der Wirklichkeit mit dem Ziel, dass unser Leben auf soliden Füßen stehen kann. Sie drängt vorwärts, stellt sich der Wirklichkeit, fragt bei ihr nach und klopft sie ab, fragt nach der Bedeutung im Detail, aber auch nach der Bedeutung im Ganzen, nimmt Dinge unter dem Maßstab des Ganzen wahr, und ahnt immer wieder auch ein „Dahinter“ als letzter Form der Teilhabe.

 

Unsere Geistigkeit entspricht der Geistigkeit der Wirklichkeit

 

Diese unsere Geistigkeit hat dann eine wunderbare Entsprechung in der Geistigkeit der Wirklichkeit. Nicht nur der Mensch ist mit Verstand begabt, auch die Wirklichkeit ist geistbegabt. Sie hat ihre Logik, und diese Logik ist offen auf die menschliche Geistigkeit hin. Sie ist erschließbar, ausschöpfbar, jedoch im Wesentlichen nicht verhandelbar. Vielmehr ist sie im Letzten zwingend, bis sie erkannt ist. Und sie wehrt sich, wenn sie falsch oder ungenügend erschlossen wird.

 

Ein wenig Stolz ist erlaubt

 

Geistiges Leben lohnt sich. Im Geistigen zuhause sein macht stark. Wissen gibt Sicherheit. Ich bin stolz und freue mich immer, wenn ich etwas begriffen habe. Ich freue mich innerhalb meines Berufsbereiches, wenn ich etwa im therapeutischen Setting die Bedeutung eines Symptoms verstehe, wenn ich erkenne, was dahinter steht und finde, was wirkt. Ich genieße es, wenn sich meine anfänglichen Arbeitshypothesen nach und nach immer mehr bewahrheiten, wenn ich Verbindungen zwischen Lebensumständen und Krankheiten erkenne, oder wenn heute Krankheiten generell immer mehr als aus den Sphären gestörten Daseins kommend verstanden werden. Ich freue mich über unzählige spannende Forschungsergebnisse unserer Zeit. Ich genieße es, wenn ich Harald Lesch lese oder höre, und dabei nicht nur seine Gabe, Wissen zu vermitteln bestaune, sondern auch den Umfang und die Tiefe seiner Erkenntnisse. Ich freue mich, wenn ich manches verstehe, fühlte mich aber schnell auch um eine Klasse zurückversetzt, als ich mit „Kosmologie für helle Köpfe“ (5) – von H. Lesch und J. Müller verfasst - zu lesen anfangen wollte und bald bei „Kosmologie für Fußgänger“ (6) – ebenfalls von diesen beiden Autoren - gelandet bin. Und das war dann auch noch sehr anspruchsvoll. Zum Trost: Man kann sich auch über die geistigen Begabungen Anderer freuen.

 

Gabe und Aufgabe zugleich

 

Die Gabe des Verstandes, die Fähigkeit zu denken, ist Gabe und Aufgabe zugleich. Zur Natur jeder irdischen Wirklichkeit gehört ein Gestaltungsauftrag. Geistigkeit lebt, wie schon gesagt, von der Aktivierung, vom Üben, vom Training, vom Lernen. „Use it or lose it“ lautet ein treffendes englisches Sprichwort. „Wer rastet, der rostet“ heißt es auf Deutsch. Die Maschine muss am Laufen gehalten werden, könnte man salopp sagen. Bei einem Kongress der Neuropsychologen 2006 in Zürich (7) wurde dringendst empfohlen, sich bis ins hohe Alter kognitiv anregend zu beschäftigen. Ohne anregende kognitive Betätigung baut sich das Nervengewebe ab und unser Geist verkümmert. Besonders wichtig wird dabei der Dialog. Hier erschließt und vermehrt sich unsere geistige Begabung ganz besonders. Und hier kommt uns zugute, dass wir Menschen anerkanntermaßen dialogische Wesen sind.

 

Lob der Wissenschaft

 

Hier ist nun auch ein Wort zu den Wissenschaften fällig. Ich liebe die Wissenschaft und die Forschung, die Wissenschaftler und die Forscher, die geistigen Menschen, die Universität, die Bücher, speziell die Fachbücher. Ich sage Ja zu den Wissenschaften, Ja zu einer soliden denkerischen Durchdringung des Selbst- und Weltbezuges. Ich komme noch aus einer theologischen Ausbildung, die während der ersten vier Semester ein „weltliches“ Fach als Pflichtfach anordnete. Ich habe in Regensburg Physik gewählt. An der Universität Innsbruck habe ich leider viel zu kurz und zu sparsam in die Sozialwissenschaften, in die Pädagogik und Psychologie hineingeschaut – bin aber heute noch vom liebenswürdigen und hervorragenden Sozialwissenschaftler  P. Johannes Schasching SJ, vom großartigen Pädagogen Wolfgang Brezinka und einer fachkundigen psychiatrischen Vorlesungsreihe beeindruckt. Kundige Wissenschaftler und Forscher sind das beste Bollwerk gegen die heute als ganz normal geltende Herrschaft des Irrationalen, des Ungefähren, des Oberflächlichen, des Banalen. Ich bevorzuge eine seriöse geistige Durchdringung der Welt- und Lebenszusammenhänge. Ich erinnere an die späten „Bekenntnisse“ eines demütigen Karl Rahner (8), an seine Wertschätzung der Wissenschaften, besonders der anthropologischen, an seine eingestandene Hilflosigkeit, die „Gottesrede“ der Wissenschaften zu verstehen. Ich wiederhole seine Beschwörung eines möglichst breiten Dialoges zwischen der Theologie und den übrigen Wissenschaften. Bei dieser Wertschätzung des Verstandes und der wissenschaftlichen Erkenntnisse steht Rahner ganz in der Tradition des Konzilsdokumentes „Über die Kirche in der Welt von heute“ (9). Dieses Dokument betont nur die Selbstverständlichkeit: Unser Verstand ist – bei all seinen Grenzen - geeignet, die Sprache der Dinge zu unserem Wohl und Nutzen zu verstehen.

 

Die geistige Qualität der Weisheit

 

Meine Bausteine für ein Loblied auf unsere cognitive und mentale Begabung gipfeln im Verweis auf eine philosophisch und theologisch hoch angesehene geistige Qualität, für die der Begriff Weisheit steht. Weisheit, das Wissen um die wesentlichen Wahrheiten des Lebens und Fähigkeiten der Lebensgestaltung, ist das Endziel der Entwicklung eines Potenzials, das dem menschlichen Existential des Denkens zugeordnet ist. Weisheit hat eine besondere Beziehung zum Denken, zur Erkenntnis, zur Einsicht, zu Verstand und Vernunft, zur Ratio, zum Intellekt, zum Geist, zu unseren Gedanken, zum Lernen, zu unserem neuronalen System, zu unserem Gehirn. Weisheit hat einen hohen Stellenwert in der biblischen und philosophischen Tradition. Das ganze Denken des Alten Testamentes ist bereits von einer Hochachtung der Weisheit und der Weisen durchzogen. Vor allem drei biblische Bücher schwärmen vom Ziel- und Höhepunkt unserer Denkfähigkeit, das Buch der Sprichwörter, das Buch der Weisheit und das Buch Jesus Sirach. Salomos Weisheit war in biblischen Zeiten bereits sprichwörtlich (1 Kg 5,21). Von Judith heißt es, es habe keine zweite Frau gegeben, die so verständig wie sie reden konnte (Jdt 11,20). Auch Jesu Weisheit wird in den Evangelien immer wieder hervorgehoben und bestaunt (Mt 12,42; 13,54, Mk 6,2, Lk 2,40). Nach dem Kolosserbrief sind in ihm „alle Schätze der Weisheit und der Erkenntnis verborgen“ (Kol 2,3). In der Apostelgeschichte wird berichtet, dass bei der Auswahl der Mitarbeiter der Apostel das Kriterium geltend gemacht werden sollte, man möge „Männer von gutem Ruf und voll Geist und Weisheit“ (Apg 6,3) nehmen..

 

Ich komme noch einmal kurz zurück auf die Weisheitsbücher des Alten Testamentes. Dort werden wahre Hymnen an die Weisheit verfasst (Weish 8,2-18; Sir 24,   1-22; 51,13-30). Von ihr wird gesagt: Sie übertrifft die Perlen an Wert (Spr 8,11), sie ist besser als Gold (Spr 16,16), sie ist der Lebensquell (Spr 13,14), sie ist Heil der Welt (Weish 6,24), sie ist Gegenstand des innigsten Flehens (Weish 8,19-9,19) und der ständigen Suche (Weish 6, 1-21; Spr 4,1-27). Die höchste Wertschätzung erfährt sie aber im Bild der „Frau Weisheit“ (Spr 9,11), wo sie zu quasipersonaler Würde aufrückt. Diese Texte des Alten Testamentes gelten auch heute, selbst wenn die neutestamentlichen Bücher aufgrund des Lebensschicksals Jesu ihre Probleme mit der „Weisheit dieser Welt“ hatten (Siehe 1 Kor 1,20; 1,22; 2,8 usw.).

 

 

2 Die Kirche leistet sich ein Denkorgan: die Theologenschaft

 

Hohe Wertschätzung des Denkens

 

Dem Adel unseres mentalen Lebens wurde im Bereich des Christentums in einer Art und Weise Anerkennung zuteil, die ich hier nicht übergehen möchte. Als Zeichen der großen Wertschätzung unserer Geistigkeit entstand ein eigenes Denkorgan, die Theologen, und eine eigene Wissenschaft, die Theologie, die es bis zum Lehrfach an den Universitäten brachte. Der Ursprung der christlichen Theologie besteht unstrittig und klar in der Tatsache, dass Verstehen und Verständlichmachen ihres Glaubens von Anfang an im Interesse der jungen Christenheit lag. Dieses Interesse ist zu allen Zeiten geblieben. Die Theologie führt dieses Verständlichmachen bis heute weiter. Nach Eberhard Schockenhoff ist dies „gerade in säkularen Gesellschaften, wo die Kirche ja nur eine Stimme neben vielen anderen ist, etwas ganz Wesentliches“ (10). In ihren Theologen besitzt die Kirche auf vielfache Art und Weise bis hin zu den theologischen Lehrstühlen ein qualifiziertes, wenn auch oft lehramtlich eingeengtes und somit zahmes Denkorgan. Trotz mancher Grenzen kann man aber sagen, dass die Geistigkeit im Christentum grundsätzlich hoch geachtet ist. Ähnliches gibt es nicht in jeder Religionsgemeinschaft. Die Etablierung dieses Denkorgans im christlichen Lebensraum ist eine der herausragendsten Leistungen in der Geschichte der religiösen Kultur. Man kann wirklich darauf stolz sein. Eine solche Einrichtung macht den Glauben vertrauter und die Entscheidung zu glauben sicherer. Der Mensch muss nicht seine Vernunft negieren, wenn er glaubt. Dass die hohe Einschätzung des Denkens für eine Religion aber auch gefährlich sein kann, steht auf einem anderen Blatt. Wer sich auf das Feld des Denkens begibt, findet reichlich Konkurrenz und Gegnerschaft.

 

Solide Absicherung durch Schrift und Tradition

 

Die Geistigkeit des Menschen innerhalb des Denkens der Kirche ist nun nicht nur dadurch hoch geadelt, dass ihr in der Theologie eine besondere Stellung zugedacht wird. Eine besondere bibeltheologische Qualifizierung erhält sie auch dadurch, dass nach dem Römerbrief (Röm 1,19-20) der Mensch kraft seiner Geistigkeit aus den natürlichen Dingen Gott genügend gut erkennen kann – und in der Folge natürlich auch die Schöpfung und die Offenbarung in Jesus Christus genügend gut verstehen und handhaben kann. Dazu gehört auch die mit der Zeit tiefere Durchdringung des Schöpfungs- und Christusmysterium. Die Bedeutung der Logos-Theologie ist dabei besonders zu würdigen. Hinzu kommt die Tatsache, dass bereits in den biblischen Überlieferungen Theologen einer späteren Generation die vorausgegangene im Blick auf das Gottes-, Menschen- und Weltverständnis zum Teil gravierend korrigiert haben. Als Beispiel führe ich erneut das Apostelkonzil an (Apg 15,1-35). Eine solche eingestandene Wahrnehmung könnte sich als eine sehr nützliche Vorgabe für das Heute erweisen.

 

 

3 Zweck und Aufgabe einer wissenschaftlich betriebenen Theologie

 

Eine Theologie, die Wissenschaft sein will, muss sich ihrer Voraussetzungen bewusst sein

 

Die Theologie ist angewiesen auf den Verstand, sie muss zurückgreifen auf die Abbildungen des Verstandes und auf die Ergebnisse der Tätigkeit des Verstandes, sie ist angewiesen auf Begriffe, auf Worte, auf Sätze als dem Grundlagenmaterial für ihr „Treiben“. Und sie ist den Feldern der jeweiligen Philosophie ausgesetzt. Die Theologie kommt um irdische Anleihen und Stützen, um Vorverständnisse nicht herum. Der tschechische Theologe und Therapeut Tomás Halík hat mit einfachen Worten darauf hingewiesen: Wenn sich Theologie ausdrücken will, muss sie beim Verstand, bei dessen Begriffen eine Anleihe nehmen. Sie muss auf die Abbildungen des Verstandes zurückgreifen, eben auf das, was Menschen bereits verstanden – und oft auch miss- oder nicht verstanden haben. Sie muss auf das Feld der Vorverständnisse gehen. Mit Begriffen ist immer auch eine Denkweise, ist eine Philosophie verbunden. Das sollte einmal von der Theologie gründlich reflektiert werden, meint Tomás Halík (11). Solches gehöre einfach zur wissenschaftlichen Redlichkeit. Theologie kann sich nur mit den Begriffen der Menschen, der Kultur, der Zeit usw. ausdrücken. Wir sind jedoch laufend dem Wandel der Begriffswelt unterworfen. Manches Begreifen, manche Begriffe werden hohl, leer und überholt, andere gefüllter oder neu gefasst. Denken und Verstehen sind immer in Bewegung. Wenn das Begreifen, wenn Begriffe oder ganze Denkmuster anders werden, wenn sie sich qualitativ verbessern oder verschlechtern, wenn Vorverständnisse nicht mehr haltbar sind, ändern sich die theologischen Bedingungen und Ausdrucksmöglichkeiten. Für den Kern, für das Wesentliche, für das Unbegreifbare müssen dann neue Zugangsweisen erschlossen werden. Denn jeder Zeit muss die Theologie sagen, was sie hat, was sie will und was sie kann.

 

Theologie muss die innere Logik der Religion gewährleisten

 

Weiterhin sorgt die Theologie dafür, dass die innere Logik der Religion gewährleistet bleibt. Der Mensch soll im Einvernehmen mit seiner Vernunft glauben. Die Glaubensinhalte sollen nicht am Intellekt scheitern. Auch ein Glaubenssystem muss von inneren Widersprüchen gereinigt werden. Das Gesetz der Widerspruchsfreiheit gilt auch hier. Ebenso muss das Kerngeschäft klar sein, die Peripherie auch. Dass Strukturen nicht zum Kerngeschäft gehören, ebenso wenig wie kulturelle Prägungen, persönliche Interessen und Lieblingsthemen, muss als selbstverständlich gelten. Auch muss deutlich werden, welche Überlieferungen dem Leben dienen und welche schaden. Gefährliche Ideen müssen entlarvt werden, ebenso alles, was unlogisch, unethisch, nicht haltbar, kontraproduktiv ist. Was sich fälschlicherweise eingespielt hat, muss zurückgenommen werden. Es geht um die Strahlkraft der guten Nachricht, damit der Mensch die Liebe leben, die Wahrheit denken und der Liebe und der Wahrheit mit allen Kräften dienen kann.

 

Theologie muss ein Bewusstsein entwickeln von dem, was man hat

 

Theologie sichtet den Kernbestand der Religion und grenzt ihn gegen sekundäre Bestände ab. Die grundlegende Frage lautet: Was ist die gute Nachricht, die zu vermitteln ist. Theologie sorgt für eine qualifizierte und reflektierte Ideengrundlage auf der Basis der Schöpfungs- und Schriftoffenbarung. Dazu muss man gute Formulierungen finden, die aufhorchen lassen. Als eines von vielen möglichen guten Beispielen könnte ein Text von Tomás Halík dienen, der so lautet: „Das Grundlegende, was uns Glaube und Theologie…sagen, ist doch, dass wir nicht Gott sind, sondern dass wir vielmehr alle, ob wir dies wahrhaben wollen oder nicht, …in einem Beziehungsverhältnis stehen zu jenem Geheimnis, das wir mit Gott benennen. Diese Einsicht ist darum so ungeheuer wichtig, weil sie uns moralisch auf eine bestimmte Haltung von Ehre, Demut und Verantwortlichkeit verpflichtet“ (12). Auf Christus bezogene Glaubende haben wahre Schätze in den Händen, die gut „verkauft“ werden wollen.

 

Theologie muss ein Bewusstsein entwickeln von dem, was fehlt

 

Jürgen Habermas hat ein Zitat in die Welt gesetzt, das aufhorchen ließ und immer noch aufhorchen lässt: „Die praktische Vernunft verfehlt ihre Bestimmung, wenn sie nicht mehr die Kraft hat, ein Bewusstsein von dem, was fehlt, von dem, was zum Himmel schreit, zu wecken und wach zu halten“ (13). Auf die Theologie angewandt würde ich das Zitat gerne so hören: „Die praktische Vernunft der Theologie verfehlt ihr Ziel, wenn sie nicht mehr die Kraft hat, ein Bewusstsein von dem, was sie hat, was vom Himmel kommt, zu wecken und wach zu halten. Und ebenso verfehlt sie ihr Ziel, wenn sie nicht mehr die Kraft hat, ein Bewusstsein von dem, was fehlt, was zum Himmel schreit, zu wecken und wach zu halten.“ Manche Kernwahrheit, die vom Himmel kommt, erlangt keine Geltung, weil sie im Gefängnis einer harten Schale steckt, und weil für dieses Eingesperrtsein kein Bewusstsein da ist, das zum Himmel schreit. Damit erledigt sich die praktische Vernunft der Theologie von selbst.

 

 

 

Theologie muss ihr Kerngeschäft der jeweiligen Zeit kreativ vermitteln

 

Auch das Kerngeschäft hat ein Kleid. Es ist in eine Sprach- und Begriffswelt gekleidet, die aus verschiedenen Kulturen stammt. Das Kerngeschäft in der Sprache Kanaan´s oder Griechenlands ist nicht mehr für jedermann verständlich. Theologie darf deshalb keine reproduktive, sie muss eine kreative Wissenschaft sein. Sie hat einen Gestaltungsauftrag für die jeweilige geistige Landschaft und die Seelensituation der individuellen Menschen. Darum muss sie Sorge tragen, dass das personale Angebot mit der guten Nachricht übereinstimmt, aber auch mit den Erfordernissen der Zeit mitgeht.

 

Theologie muss den Eindruck von einer doppelten Wahrheit vermeiden.

 

Als eine der Hauptaufgaben habe ich oben bereits angeführt: Theologie müsse das Verhältnis Schöpfungsoffenbarung – Schriftoffenbarung bzw. Vernunft – Glaube eindeutig bestimmen Die Schriftoffenbarung hat ein festes Gehäuse. Jesus ist in eine Welt gekommen, der sich Gott schon in der Schöpfung offenbarte. Darum darf es auch keine doppelte Wahrheit geben, darum dürfen sich Schöpfung und Schrift nicht widersprechen (14).

 

Die Theologie hat somit zwei zentrale Objekte, die sie bedienen und in Einklang bringen muss, nämlich das, was durch das Erscheinen Jesu Christi in die Menschheit eingeflossen ist, und das, was bereits über die Schöpfung der Welt geschenkt wurde. Um die gegenseitige Zuordnung, um die geistige Zusammenführung dieser zwei Wirklichkeiten geht es der christlichen Theologie seit ihren Anfängen. Ganz zu Beginn des christlichen Nachdenkens steht bereits ein großartiger Entwurf einer Verbindung: Über die Logos-Theologie bemüht sich der Prolog des Johannesevangeliums um diese Zusammenführung (15). Er will die Einheit des Schöpfungs- und Jesusgeschehens verständlich machen. Schöpfungstheologie und Christologie gehören nach christlichem Verständnis zusammen. Der Johannesprolog will die innere Zuordnung von zwei für damaliges Denken grundverschiedenen Dimensionen leisten. Dabei wird der göttliche Logos sowohl als Schöpfer der Welt und Offenbarer in Jesus Christus verstanden, als eine göttliche Macht, die den Weltenlauf und das Jesusgeschehen trägt. Schöpfungsoffenbarung und Jesusoffenbarung sind nur zwei Erscheinungsformen der einen göttlichen Weisheit. Ein großer Bogen fasst im Evangelium nach Johannes diese beiden Wirklichkeiten zusammen. Der Prolog wird so zu einer wahren Fundgrube und Orientierungsmarke für die heutige Theologie und zu einer Quelle, die in ihrer Tiefe noch lange nicht ausgeschöpft und in ihrer Bezogenheit bei weitem noch nicht verstanden ist.

 

Ebenso wie im Verhältnis von Schöpfung und Schrift darf es auch im Verhältnis Vernunft – Glaube keine doppelte Wahrheit geben. Schopenhauer meinte zwar – und er steht nicht allein da: „Man kann nicht zwei Herren dienen - entweder der Vernunft oder der Schrift … Entweder glauben oder philosophieren! Was man erwählt, sei man ganz“ (16). Diese Meinung ist zwar heute theologisch nicht mehr nachzuvollziehen, hat aber immer noch ihre Anhänger. Einen ganz anderen Schluss zog einst Galileo Galilei: „Ich fühle mich nicht verpflichtet zu glauben, dieser selbe Gott, der uns mit Sinnen, Vernunft und Intellekt begabt hat, verlange von uns, dass wir auf ihren Gebrauch verzichten“ (17). So dürfen wir auch alles ernst nehmen, was die Welt in sich birgt. Es gibt keine doppelte Wahrheit, die auch ein Konzil zurückweist, weil nach einer eindeutigen Aussage „die Wirklichkeiten des profanen Bereichs und die des Glaubens in demselben Gott ihren Ursprung haben“ (18).

 

Theologie muss das Gespräch mit dem Wissen der Zeit führen

 

Theologie soll nicht nur den Binnenmarkt bedienen. Sie ist für die Welt da. Sie braucht die Begegnung, das Gespräch, den Austausch mit dem Wissen der Zeit. Ein gutes Stück „Werkspionage“ bei Denkern, Dichtern, Human- und Naturwissenschaftlern – für mich sind das oft Schöpfungsexegeten - ist sehr zu empfehlen. Andere wissen auch etwas. „Wissenschaft reichert meinen Glauben an“ (19), bekennt der Chef der Vatikanischen Sternwarte, der Jesuit George Coyne. Wissenschaft hält aber auch den Glauben geerdet. Wo nämlich der Glaube geerdet bleibt, wird sich ein Richard Dawkins schwer tun, Religion weiterhin als „irrationalen Wahnsinn“ (20) zu bezeichnen. Theologie muss die Wissenschaft hereinholen. Sie muss aber auch ihr Denken hinaustragen. Sie muss z.B. den klassischen Naturwissenschaften ein durchaus „schlechtes Gewissen machen“, weil die bisherige Überfavorisierung der Materie und des Materiellen keine qualifizierte Veränderung des Menschen gebracht hat. Forschungsbereich war weitgehend das Materielle, das Greifbare – nicht die Seele. Das Materielle zwang uns seinen Willen auf, Computer, Internet oder Wirtschaft und Finanzwelt tun es heute in höchstem Maße. Dabei gibt es auch noch das „Reich des Lebendigen“. Es gibt so vieles, was sich zwischen Geburt und Tod der Menschen abspielt, wo es Werden, Wachsen, Blühen, Reifen und Vergehen gibt. Dort dominieren andere Prinzipien als im Bereich des Materiellen. Wir sehen heute zu deutlich, dass schon der Körper nicht mehr mitmacht, wenn nur seine Physik oder Chemie gesehen werden. Oder wenn die manipulierte Natur sich wehrt, weil sie - statt gepflegt – ausgebeutet wird. Ein bloß materieller Fortschritt wird immer weniger bedeutend, wenn man den Primat des Menschlichen akzeptiert. Bei seinem Kind ist der bloße Mathematiker hilflos – ebenso der pure Atomphysiker bei der Beherrschung seines Seelenlebens und der Extremsportler beim Ja zum Leben nach einer Niederlage. So kann und muss die Theologie die Wissenschaft mehr an die humanen Fachabteilungen heranführen, wo sie auch etwas zu sagen hat. Sie muss die Enge der Existenz aufbrechen und immer wieder pathologische und pathogene Weltbilder bewusst machen. Nach Theodor W. Adorno gibt es „keine Wahrheit mehr im falschen“ (21).

Auch zur Wahrheitsfindung beiderseits braucht es gerade den Kontakt zu den Denkern und Wissenschaftlern, auch zu denen unter ihnen, an denen die Kirche bisher am stärksten scheiterte. Und schließlich muss die Theologie die kirchlichen Mitarbeiter mit dem Wissen der Zeit versorgen, damit sich kein geistiges Ghetto aufbaut.

 

Theologie muss ein Bewusstsein dafür schaffen, was Theologie herabwürdigt

 

Probleme hat das kirchliche Denkorgan zu allen Zeiten genügend. Es gibt die Herausforderungen von außen, es gibt die Schwierigkeiten von innen: Im Kircheninneren gibt es Denktabus und Denkverbote, es gibt die Negierung der eigenen Geistigkeit, es fehlt manchmal an gesunder Logik und intellektueller Redlichkeit, vor allem bei offenkundigen Auftragsarbeiten. Es gibt ein unaufrichtiges Kuscheln und Kuschen, ein Sich-Drücken, ein Schweigen. Es gibt dieses Schweigen der Theologen gerade auch im Umfeld des Lehramtes. Es gibt es auch bei den deutschsprachigen Theologieprofessoren. Als das Memorandum „Kirche 2011. Ein notwendiger Aufbruch“ vorgelegt wurde, unterschrieb nur ungefähr ein Drittel der Theologenschaft. Auf dieses Faktum angesprochen meinte der Freiburger Theologieprofessor und Unterzeichner Magnus Striet im Blick auf das Stillhalten vieler seiner Kollegen, es sei nach den Erfahrungen mit der „Kölner Erklärung“ von 1989 auch verständlich, „wenn es Ängste gibt, sich in dieser Form zu exponieren“ (22). Diese von Striet wahrgenommene bzw. vermutete Einstellung mag akzeptieren, wer will. Laien an der Front läuft es dabei kalt den Rücken herunter.

 

Kirchenamt und Theologie müssen mit den Laien rechnen

 

Es braucht sich niemand wundern, wenn Gott sei Dank immer wieder und immer öfter vom Kern des Christseins geprägte Laien in den Vordergrund treten, gläubige und denkende Menschen, die an den Brennpunkten der Zeit – und nicht in Nischen – leben. Wenn Kirchenobere erstarren und eine Theologenschaft sich bedeckt hält, sehe ich immer mehr eine dritte Kraft im Kommen, dynamische glaubende und denkende Laien, die an verantwortlichen Stellen aus genuin christlicher Prägung und Motivation Welt und Gesellschaft gestalten, und die spüren, dass es so wie gewohnt nicht weitergehen kann. Stellvertretend für viele bodenständige, unruhige und besorgte Christen gebe ich hier dem deutschen Bundestagspräsidenten Norbert Lammert die Ehre, der schon beim Besuch von Papst Benedikt 2011 in Deutschland mit einer mutigen Rede wohltuend auffiel. Lammert weiß, wie es Prof. Richard Heinzmann im Rahmen der Eugen-Biser-Preisverleihung an Lammert im November 2012 ausdrückte, dass sich das Christentum nicht in „Dogmen und Lehrsätzen“ „erschöpft“, sondern einen „Existenzmodus“ darstellt, der „in die Lebenswirklichkeit gestaltend“ eingreift und sich „in den Daseinsstrukturen dieser Welt“ realisiert (23). Dieser Bundestagspräsident ist ein Mann, der nach den Worten des bayerischen Innenministers Joachim Herrmann vorlebt, „dass der christliche Glaube auch auf dem glatten politischen Parkett zuverlässigen Halt bietet“ (24). Lammert etwa könnte in Zukunft die Reihe denkender und gläubiger Laien anführen und durch seine Geistigkeit und Integrität nicht eine naive Gegen- sondern eine denkende Mitkirche gestalten. Bei der Entgegennahme des angesehenen Eugen-Biser-Preises wies er sich als glänzend geeignet aus und legte wohl durchdacht, mutig und in klarer Sprache dar, was Kirche und Glaube heute haben und was ihnen fehlt. Seine Ausführungen sind ein guter Abschluss dieses Beitrages zum Adel des mentalen Lebens. In seinen Worten war ein Denker am Werk.

 

Die Kirche hat, und damit schließe ich diese Ausführungen, den Aufbruch und den Inhalt des Zweiten Vatikanischen Konzils im Gepäck – aber an der Fortsetzung und Ausführung dieses Aufbruchs fehlt es gewaltig. Es gebe in der Kirche mehr „Angststarre als Aufbruch“, und man konzentriere sich auf „zweit- und drittrangige“ Probleme, „wodurch das Wesentliche aus den Augen gerät“, so drückte Lammert seine Sicht der Situation aus. Nicht ohne Grund forderte er deshalb „kluge Hirten und eine aufgeklärte Herde“ und gab sehr spitz formuliert seiner Hoffnung Ausdruck, „dass der Heilige Geist stärker ist als die Theologen“ (25). Mut hat der Mann!

 

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Anmerkungen

 

1 Joachim Bauer, Prinzip Menschlichkeit, Hamburg 2007, 23

2 Albert Einstein, Quelle nicht mehr auffindbar

3 Zit. in Doris Weber, Heilsame Netze, Publik Forum 12/2012, 26

4 Rupert Lay, Manipulation durch Sprache, Hamburg 1980, 54

5 Harald Lesch / Jörn Müller, Kosmologie für helle Köpfe, München 2006

6 Harald Lesch / Jörn Müller, Kosmologie für Fußgänger, München 2001

7 Siehe Internet unter www.uzh.ch/news/articles/2006

8 Karl Rahner, Erfahrungen eines katholischen Theologen, veröffentlicht in  Sämtliche

   Werke, Bd. 25, 47-57

9 Karl Rahner / Herbert Vorgrimmler, Kleines Konzilskompendium, Freiburg im Breisgau

   1966, 449 ff.

10 Eberhard Schockenhoff, in Badische Zeitung vom  22.12.11

11 Tomás Halík, Nachtgedanken eines Beichtvaters, Freiburg im Breisgau 2012., 100 ff.

12 Ebd.103

13 Michael Reder und Josef Schmidt (Hrsg.), Ein Bewusstsein von dem, was fehlt    

     – Eine Diskussion mit Jürgen Habermas, Frankfurt am Main 2008, 31                        

14 Tomás Halík, Nachtgedanken eines Beichtvaters, Freiburg im Breisgau 2012, 103 ff.

15 Josef Blank, geistliche schriftlesung, das evangelium nach johannes, Düsseldorf 1981,

     76-85; 107-110

16 Arthur Schopenhauer, Parerga und Paralipomena II, Kapitel XV, Ueber Religion, § 181

     in Sämtliche Werke in fünf Bänden, Band IV, Frankfurt am Main 1986

17 Galileo Galilei, Quelle nicht mehr auffindbar

18 Karl Rahner / Herbert Vorgrimmler, Kleines Konzilskompendium, Freiburg im Breisgau

     1966, 482

19 George Coyne in ZEIT ONLINE, 2008/08

20 Richard Dawkins, Der Gotteswahn, Berlin 2007

21 Theodor W. Adorno, Minima Moralia I, 18, Gesammelte Schriften, Bd. 4, 19

22 Magnus Striet in Badische Zeitung vom 04.02.2011

23 Zit. in Gerald Schneider, Hoffen auf die Einheit der Kirche, Straubinger Tagblatt vom

     12.11.2012, 7

24 Zitat ebd. 7

25 Zitate ebd. 7