Lukas 15,11-19 und Deuteronomium
21,18-21:
Der barmherzige und der
unbarmherzige Vater
Das Gleichnis vom barmherzigen Vater (Lk 15,11-19)
Die
Rolle der Vater-Gestalt (Gottes-Gestalt) in Lukas 15,11-19 wird in ihrem
wahren Ausmaß erst deutlich, wenn man ihr den ebenfalls durch die Bibel
legitimierten Anti-Text »Der unbarmherzige Vater« gegenüberstellt. Dabei
tritt die tiefe Gespaltenheit der biblischen Offenbarung zutage. Spricht
Lukas 15,11-19 von der liebenden Aufnahme eines Sohnes (siehe Seite 96), so
redet der Anti-Text, der sich an Deuteronomium 21,18-21 orientiert, der
brutalen Verstoßung eines Sohnes das Wort. Hier sind die beiden Texte:
Die Aufnahme eines Sohnes (Lukas
15,11-19)
11
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...
Ein Mann hatte zwei Söhne.
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12
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Der
jüngere von ihnen sagte zu seinem Vater: Vater, gib mir das Erbteil, das
mir zusteht. Da teilte der Vater das Vermögen auf.
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13
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Nach
wenigen Tagen packte der jüngere Sohn alles zusammen und zog in ein fernes
Land. Dort führte er ein zügelloses Leben und verschleuderte sein Vermögen.
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14
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Als
er alles durchgebracht hatte, kam eine große Hungersnot über das Land, und
es ging ihm sehr schlecht.
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15
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Da
ging er zu einem Bürger des Landes und drängte sich ihm auf; der schickte
ihn aufs Feld zum Schweinehüten.
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16
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Er
hätte gern seinen Hunger mit den Futterschoten gestillt, die die Schweine
fraßen; aber niemand gab ihm davon.
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17
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Da
ging er in sich und sagte: Wie viele Tagelöhner meines Vaters haben mehr
als genug zu essen, und ich komme hier vor Hunger um.
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18
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Ich
will aufbrechen und zu meinem Vater gehen und zu ihm sagen:
Vater, ich habe mich gegen den Himmel und gegen dich versündigt.
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19
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Ich
bin nicht mehr wert, dein Sohn zu sein; mach mich zu einem deiner
Tagelöhner.
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20
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Dann
brach er auf und ging zu seinem Vater. Der Vater sah ihn schon von weitem
kommen, und er hatte Mitleid mit ihm.
Er lief dem Sohn entgegen, fiel ihm um den Hals und küsste ihn.
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21
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Da
sagte der Sohn: Vater, ich habe mich gegen den Himmel und gegen dich versündigt;
ich bin nicht mehr wert, dein Sohn zu sein.
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22
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Der
Vater aber sagte zu seinen Knechten: Holt schnell das beste Gewand und
zieht es ihm an, steckt ihm einen Ring an die Hand, und zieht ihm Schuhe
an.
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23
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Bringt
das Mastkalb her und schlachtet es; wir wollen essen und fröhlich sein.
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24
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Denn
mein Sohn war tot und lebt wieder; er war verloren und ist wiedergefunden
worden. Und sie begannen, ein fröhliches Fest zu feiern.
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Die
Verstoßung eines Sohnes
(nach Deuteronomium 21,18-21)
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11
|
...
Ein Mann hatte zwei Söhne.
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12
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Der
jüngere von ihnen sagte zu seinem Vater: Vater, gib mir das Erbteil, das
mir zusteht.
Da teilte der Vater das Vermögen auf.
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13
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Nach
wenigen Tagen packte der jüngere Sohn alles zusammen und zog in ein fernes
Land. Dort führte er ein zügelloses Leben und verschleuderte sein Vermögen.
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14
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Als
er alles durchgebracht hatte, kam eine große Hungersnot über das Land, und
es ging ihm sehr schlecht.
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15
|
Da
ging er zu einem Bürger des Landes und drängte sich ihm auf; der schickte
ihn aufs Feld zum Schweinehüten.
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16
|
Er
hätte gern seinen Hunger mit den Futterschoten gestillt, die die Schweine
fraßen; aber niemand gab ihm davon.
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17
|
Da
ging er in sich und sagte: Wie viele Tagelöhner meines Vaters haben mehr
als genug zu essen, und ich komme hier vor Hunger um.
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18
|
Ich
will aufbrechen und zu meinem Vater gehen und zu ihm sagen: Vater, ich habe
mich gegen den Himmel und gegen dich versündigt.
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19
|
Ich
bin nicht mehr wert, dein Sohn zu sein; mach mich zu einem deiner
Tagelöhner.
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20
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Dann
brach er auf und ging zu seinem Vater. Der Vater sah ihn schon von weitem
kommen, er hatte auf diesen Tag gewartet.
Er bebte vor Wut, als der Sohn in das Haus trat und sich ihm zu Füßen warf.
Nichts von Mitleid war zu spüren.
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21
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Da
sagte der Sohn: Vater, ich habe mich gegen den Himmel und gegen dich versündigt;
ich bin nicht mehr wert, dein Sohn zu sein.
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22
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Der
Vater aber rief seine Knechte und schrie: „Dieser Sohn ist störrisch und
widerspenstig, er hörte nicht auf meine Stimme er ist ein Verschwender und
Trinker.
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23
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Nehmt
ihn und steinigt ihn, er soll sterben.
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24
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Ich
sage euch: Ihr sollt das Böse wegschaffen aus eurer Mitte. Ganz Israel soll
davon hören und sich fürchten.“
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Wie
bereits erwähnt, handelt es sich bei diesem Anti-Text auf der
vorhergehenden Seite um die erzählende Vermittlung (»narrative Theologie«)
einer »göttlichen Anordnung« in Dtn 21,18-21,
auf die Israel feierlich verpflichtet wurde. Der einschlägige Text lautet
so:
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18
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Wenn
ein Mann einen störrischen und widerspenstigen Sohn hat, der nicht auf die
Stimme seines Vaters undseiner Mutter hört,
und wenn sie ihn züchtigen und er trotzdem nicht auf sie hört,
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19
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dann
sollen Vater und Mutter ihn packen, vor die Ältesten der Stadt und die
Torversammlung des Ortes führen
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20
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und
zu den Ältesten der Stadt sagen:
Unser Sohn hier ist störrisch und widerspenstig, er hört nicht auf unsere
Stimme, er ist ein Verschwender und Trinker.
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21
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Dann
sollen alle Männer der Stadt ihn steinigen, und er soll sterben.
Du sollst das Böse aus deiner Mitte wegschaffen.
Ganz Israel soll davon hören, damit sie sich fürchten.
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Die Einführung in das Buch Deuteronomium innerhalb der offiziellen
Einheitsübersetzung der Bibel sagt uns über die theologische Qualifikation
dieses Buches, dass es »gewissermaßen als göttlicher Maßstab für die
Geschichte des Volkes« an den Anfang eines Geschichtswerkes gestellt wurde,
das von Mose bis zu König Joschija (641-609 v.Chr.) reichte: »Indem Israel
seine späteren Ordnungen und Einsichten bis in die Zeit des Mose zurückverlegt,
bekennt es, dass es sich dabei um Gottes Weisung und Satzung handelt, an der
man für immer festhalten soll.«7
1. Die Erarbeitung
des Textes Lukas 15,11-19
Den Teilnehmern eines Kurses ist der
Lukas-Text wohlbekannt, der Anti-Text ist ihnen unbekannt, ebenso seine
Herkunft. Zunächst suche ich drei Lektoren für den Lukas-Text, jeweils einen
für die Rolle des Erzählers, des Vaters und des Sohnes. Sie sollen ihre Geschichte
lesen und durch Unterstreichen ihre Teile herausstellen. Ebenso verfahre ich
mit dem Anti-Text.
Nach Beendigung der Einlesezeit stellen sich beide Gruppen einander gegenüber
auf. Sie lesen nun Vers um Vers parallel vor. Die Lukas-Gruppe beginnt mit
Vers 11, die Anti-Gruppe ebenfalls. Nach der anfänglichen Monotonie, die
durch die gleichlautenden Sätze entsteht, steigert sich gegen Schluss hin die
Spannung immer mehr. Am Ende herrschen Stille und Verwunderung.
2. Der Dialog mit dem
Text
Zwei gegensätzliche Geschichten stehen
nun im Raum. Die Teilnehmer wollen zunächst Informationen über die Herkunft
des Anti-Textes. Diese werden betroffen zur Kenntnis genommen. Das Gespräch
mit dem Text wird dann in der Weise fortgeführt, dass zwei Teilnehmer gebeten
werden, Vater und Sohn zu spielen. Der Eingangsdialog ist beiden vorgegeben:
Sohn: »Vater, es war sehr schwer für mich, wieder heimzukommen.«
Vater: »Wieso? Du bist doch mein Kind.«
Sohn: »Man erzählt so vieles über dich - Dinge, die einem angst und bange
machen.«
Vater: »Das möchte ich schon genauer wissen. Dann sag mir doch einmal,
was man so alles über mich erzählt.«
Der »Sohn« schildert jetzt mit eigenen Worten das Bild des Vaters, wie es im
Anti-Text aufscheint bzw. nimmt Bezug auf andere Gottesbilder und
-geschichten, die Angst machen.
3. Die Beurteilung der
Rolle Gottes in Lukas 15,11-19
Durch
die Kontrasterzählung ist das Gesicht Gottes, wie es Lukas schildert, noch
heller und klarer geworden. Andererseits drängt aber auch das Durcheinander
der Gottesbotschaften nach Klärung und Lösung.
4. Die Konsequenzen aus
der Arbeit mit dem Text
Die
Teilnehmer sind sensibel geworden und hochmotiviert, das wahre Gesicht Gottes
zu suchen und zu vertreten. Die Textunterlagen werden erbeten und die Gespräche
in den Pausen kommen immer wieder auf diese Textarbeit mit Lukas 15,11-19
zurück.
Aus: Lorenz Zellner: „Gottestherapie“
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