Matthäus 20,1-16: Das
Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg
Bei
einem Wochenendkurs mit zehn Teilnehmern steht unter anderem das Gleichnis
von den Arbeitern im Weinberg auf dem Plan. Bei einigen Personen ist ein
vorgegebenes Unbehagen an dem sonderbaren Arbeitgeber des Gleichnisses zu
spüren.
1. Die Erarbeitung des
Textes unter Zuhilfenahme eines Anti-Textes
Die
zehn Teilnehmer werden in zwei Gruppen (A und B) zu je fünf Personen
eingeteilt. Beide Gruppen arbeiten von nun an getrennt an ihren Aufgaben.
Gruppe
A sucht einen Nebenraum auf und studiert den Text Matthäus 20,1-16.
Die
Gruppe versichert sich, dass sie den Text so verstanden hat, wie er vorliegt.
Dann werden Darsteller für die folgenden Rollen gesucht: Gutsbesitzer (Gott),
ein Arbeiter der ersten Stunde und seine Ehefrau, ein Arbeiter der letzten
Stunde und seine Ehefrau.
Der Gutsbesitzer zieht sich auf sein Zimmer zurück und meditiert über seine
Haltung im Bibeltext: »Bei mir bekommt jeder, was er braucht. Ich bin gütig.
Und dazu stehe ich auch.«
Der Arbeiter der ersten Stunde zieht sich mit seiner Frau ebenfalls zurück.
Beide erarbeiten eine Beschwerde, die sie am Abend dem Gutsbesitzer vortragen
wollen. Der Mann ist ebenso wie seine Frau mit der Antwort in den Versen
13-15 nicht zufrieden. Auch der Arbeiter der letzten Stunde bespricht mit
seiner Frau die Situation. Er ist voll Freude nach Hause gekommen. Seine Frau
hat das Bedürfnis, sich beim Gutsbesitzer herzlichst zu bedanken. Beide
überlegen jetzt Inhalt und Form des Dankes.
Gruppe B liest zur gleichen Zeit den vorbereiteten Anti-Text zu Matthäus
20,1-16. Die Verse 1-8 sind identisch mit 20,1-8. Ab Vers 9 gehen die Inhalte
auseinander:
9
|
Da
kamen die Männer, die er früh am Morgen angeworben hatte, und jeder erhielt
einen Denar.
|
10
|
Alle
anderen erhielten, wie sie es verdienten; die von der elften Stunde ein
Zwölftel des Tagesgehaltes.
|
11
|
Alle
schienen zufrieden zu sein.
|
12
|
Als
der Gutsbesitzer kurz vor Einbruch der Dämmerung seinen Abendspaziergang
antrat, sah er einen Arbeiter der ersten Stunde zusammen mit seiner Familie
gemütlich vor dem Hause sitzen. Als der Gutsbesitzer herantrat, bedankten
sich alle sehr herzlich für Arbeit und Brot.
|
13
|
Aus
einem anderen Hause dagegen drang Weinen und Schreien. Ein Mann und eine
Frau kamen heraus, rannten auf den Gutsbesitzer zu und warfen sich ihm zu
Füßen. Der Gutsbesitzer erkannte einen Arbeiter der elften Stunde: »Herr,
Herr«, riefen sie, »unsere Kinder haben nichts zu essen. Erbarme Dich!
Höre, wie sie weinen und schreien.«
|
14
|
Da
erwiderte er ihnen: »Liebe Leute, Euch geschah kein Unrecht. Bei mir
bekommt jeder, was er verdient. Ich kann es mir nicht leisten, ungerecht zu
sein.«
|
15
|
Und
er ging von dannen.
|
16
|
So
wird auch bei Gott jeder bekommen, was er verdient.
|
Auch hier versichert sich die Gruppe, dass sie den Klartext verstanden hat.
Sie verteilt dann die gleichen Rollen wie die Gruppe A.
Auch hier zieht sich der Gutsbesitzer zurück und meditiert seine Haltung im
Anti-Text: »Bei mir bekommt jeder, was er verdient. Ich bin gerecht. Und
dabei bleibt es.«
Der Arbeiter der ersten Stunde erarbeitet mit seiner Frau, was sie mit dem
schon längere Zeit konstanten Lohn (ein Denar pro Tag) anschaffen wollen. Sie
sind glücklich und dankbar.
Der Arbeiter der letzten Stunde stellt zusammen mit seiner Frau die
Verzweiflung dar, die der geringe Lohn mit sich bringt.
Nach 30 bis 40 Minuten sind die Rollen erarbeitet und das Spiel kann
beginnen. Den Anfang macht die Gruppe B. In einer Ecke, den Zusehern und
Zuhörern (Gruppe A) gegenüber sitzt der Arbeiter der ersten Stunde mit seiner
Frau beim Abendbrot. In der anderen Ecke der Arbeiter der letzten Stunde,
ebenfalls mit seiner Frau.
Ich beginne, den Anti-Text einschließlich des Verses 11 zu lesen. Ich füge
dann hinzu, dass der Gutsbesitzer kurz vor Einbruch der Dunkelheit seinen
Abendspaziergang antritt und noch einmal mit dem Geschehen des Tages
konfrontiert wird.
Der Gutsbesitzer, der bis zu diesem Zeitpunkt an der Türe steht, beginnt
seinen Weg durch den Ort. Er trifft zunächst auf den Arbeiter der ersten
Stunde, der mit seiner Frau beim Abendbrot vor dem Hause sitzt. Die beiden
erzählen dem Gutsbesitzer mit überschwänglichen Worten und voller
Dankbarkeit, was sie mit dem einen Denar pro Tag für sich, die Kinder, das
Haus anschaffen konnten. Der Gutsbesitzer vernimmt ihren Dank voller Stolz
und Zufriedenheit.
Dann setzt er seinen Weg fort. Aus einem Haus hört er Zank und Schreie. Ein
Mann und eine Frau stürzen ihm entgegen, werfen sich ihm zu Füßen und bitten
um Hilfe. Sie schildern detailliert ihre Not: die Arbeitslosigkeit, den Hunger
der Kinder, das Wohnungsproblem. Sie bitten um Verständnis und Erbarmen: »Das
musst du doch verstehen! Hör, wie die Kinder weinen und schreien!«
Doch der Herr bleibt ungerührt und macht deutlich: »Bei mir bekommt jeder,
was er verdient.« Schließlich lässt er die beiden stehen und setzt seinen Weg
fort. Damit ist das Spiel der Gruppe B beendet.
Nun tritt die Gruppe A an. Der Gutsbesitzer sitzt den Zusehern und Zuhörern
(Gruppe B) gegenüber beim Abendessen. Die übrigen Darsteller stehen an der
Türe.
Ich führe mit wenigen Worten an das Spiel heran, das sich am biblischen Text
orientiert. Ich erwähne, dass der Gutsbesitzer während des Abendessens noch
zweimal Besuch bekommt und auch hier noch einmal mit dem Geschehen des Tages
konfrontiert wird. Auf mein Zeichen stürzen dann der Arbeiter der ersten
Stunde und seine Frau auf den Gutsbesitzer zu und üben herbe Kritik. Sie
verweisen auf die Hitze, auf die wunden Hände, die verbrannte Haut, die
Schmerzen im Rücken, schimpfen über die Faulpelze der letzten Stunde und über
die Ungerechtigkeit des Herrn. Doch dieser bleibt freundlich und klar: »Bei
mir bekommt jeder, was er braucht. Und so bleibt es!«
Schließlich kommt der Arbeiter der letzten Stunde mit seiner Frau. Beiden
läuft der Mund nur so über, so dankbar sind sie. Der volle Lohn hat sie ganz
unvorbereitet getroffen. Der Gutsbesitzer freut sich und versichert ihnen:
»Bei mir bekommt jeder, was er braucht. Und dabei bleib ich!«
Damit ist auch dieses Spiel beendet. Eine kurze Pause ist wohlverdient.
2. Der Dialog mit dem
Text
Der Dialog mit dem Text findet dieses
Mal in einer ganz ungewohnten Art statt. Es ist ein Gespräch der beiden
Gutsbesitzer, der beiden Gottesgestalten. Der gerechte Gott (»Jeder bekommt,
was er verdient«) und der gütige Gott (»Jeder bekommt, was er braucht«)
sitzen sich gegenüber. Der gerechte Gott hat auf einem Stuhl Platz genommen,
der gütige Gott sitzt auf der Erde. Beide konnten sich in der Pause kurz auf
dieses Gespräch vorbereiten.
Nun erhalten sie zunächst Gelegenheit zu einem kurzen Statement. Hier können
sie ihre Prinzipien zusammenfassen. Der gerechte Gott beginnt sein Statement
mit Vorwürfen: »Du bringst alles durcheinander: Ordnung, Recht und sozialen
Frieden. Wo kommen wir da hin!« Und er schildert die Vorzüge der
Gerechtigkeit, des gerechten Lohnes, der Gleichbehandlung aufgrund von
Leistung. Er mahnt den gütigen Gott zur Umkehr.
Der gütige Gott stellt seine Sichtweise nochmals dar: »Jeder soll haben, was
er braucht: sein Essen, seine Wohnung, einmal den Himmel.« Und dann entwickelt
er eine glänzende Idee: »Steig herab«, sagt er zum gerechten Gott, »setz dich
auf den Boden, zu den Menschen, schau, wie sie sind, schau hin, wie sie
leiden ... Ganz anders soll es sein: Sie sollen sich freuen. Komm, ich zeig
dir's einmal. Steht auf!« Und beide stellen sich Rücken an Rücken, verhaken
sich mit den Armen. Und der gütige Gott beginnt sich zu drehen und zu tanzen
und zieht den gerechten Gott mit. Dieser macht notgedrungen mit, aber sein
finsteres Gesicht legt sein wahres Fühlen und Denken offen. Wir Zuschauer und
Zuhörer sind alle tief beeindruckt.
3. Die
Beurteilung der Rolle Gottes in Matthäus 20,1-16
Die Rolle Gottes in diesem biblischen
Text wurde von allen Teilnehmern als großartig und einzigartig bezeichnet. In
diese Freude mischte sich aber auch Beklemmung, weil gerade durch die
Verbindung der beiden Gottes-Darsteller deutlich wurde, dass im Christentum
beide Gottesgestalten zu einem Gott verbunden wurden. Der Gedanke des
Januskopfes wurde in das Gespräch geworfen.
4. Die Konsequenzen der
Arbeit mit dem Text
Uns wurde klar, dass die beiden
Gottesgestalten entflochten werden müssen. Klare Grenzen sind gerade im Blick
auf die Opfer des gerechten Gottes gefordert. Für mich wurde noch klarer: Wer
sagt, an welchen Gott er glaube, der muss gleichzeitig in Zukunft auch sagen,
an welchen Gott er nicht glaube.
Als zentrale Aufgabe sehe ich es auch an, das Bild des gütigen Gottes immer
wieder zu meditieren und in unser Inneres einsickern zu lassen. Da uns der
gütige Gott in Jesus erschienen ist, kann uns ein Christusbild aus einer
Miniatur des Metzer Sakramentarfragments um 870 eine gute Hilfe sein. In
einer Mandorla sitzt Christus, der dem Betrachter einen Denar
entgegenstreckt. Dieses Bild (erhältlich beim Liturgischen Institut Trier)
nimmt Bezug auf den eben behandelten Text. Ich habe zu diesem Bild die folgende
Meditation geschrieben:
Sein Bild liegt vor mir.
Und ich bin vor ihm.
Es ist ein Christusbild wie viele andere:
ein prächtiger Rahmen
und leuchtende, warme Farben:
Gold und Rot stehen für die Schönheit des Kosmos,
Grün ist Zeichen eines Lebens in Fülle,
Blau steht für die Tiefe des Geheimnisses,
das Gold des Mantels ist Hinweis auf seine Würde und Herrlichkeit.
Ein Christusbild wie viele andere -
und doch anders:
Da sitzt nicht ein Pantokrator, ein Allherrscher,
ein Allmächtiger, ein Richter vor uns,
keiner, der uns vor sein Gericht zitiert,
keiner, der gut und böse scheidet,
keiner, der belohnt und bestraft,
keiner mit dem Schwert in der Hand,
keiner mit der Gerichtswaage,
keiner mit erhobenem Zeigefinger,
mit starrem Gesicht und strenger Miene,
kein Richter, wie ihn die Gerichtsszene in Matthäus 25 darstellt.
Da hat sich wohl einer »verschaut«.
Da hat einer das geläufige Bild ausgewechselt
und einen Christus in die Mandorla gesetzt,
der so unerhört anders aussieht:
ein junges, offenes, einladendes,
ja irgendwie harmloses Gesicht ist uns zugewandt
und grenzenlos gütige Augen schauen uns an.
In der einen Hand ist das Buch der Frohbotschaft,
in der anderen die goldene Münze, der Denar.
Da sitzt ein Jesus vor uns,
der wie der Weinbergbesitzer im Gleichnis
einfach Freude am Schenken hat,
der den Letzten beschenken will,
der sich über das Glück der Beschenkten freut.
(An dieser Stelle wird der Schrifttext gelesen).
Wir sind jetzt über Gott »im Bild«:
So ist Gott, ja genauso ist Gott!
Und so, genauso ist auch Jesus!
Darf Gott, darf Jesus das wirklich?
Der Text sagt: Er darf es und er tut es!
Es macht Gott Freude, jeden Menschen zu
beschenken,
auch den Bösen mit der Sonne,
auch den Ungerechten mit dem Regen,
den verlorenen Sohn mit einem Kuss und einem Fest,
mit Gewand, Schuhen und Ring,
den Arbeiter der letzten Stunde mit einem Denar.
Wir schauen wieder auf unser Christusbild:
So, genauso wie hier, ist Christus.
Noch beim Gericht scheint er den »Sünder« zu bitten:
»Nimm den Denar an!«
Und den »Gerechten«:
»Sei nicht neidisch!«
»Darf ich mit dem, was mir gehört, nicht tun, was ich will?«
(An dieser Stelle kann meditative Musik erklingen).
Der Jesus, der den Denar gibt,
ist der gleiche Jesus, der uns sein Brot gibt:
Brot nicht einen Skorpion, nicht eine Schlange!
Er teilt sein Brot aus.
Er teilt sich als Brot des Lebens aus.
Er schenkt sich den Hungernden und Weinenden,
den Kranken und den Sündern,
den Kleinen und den Großen.
Er lädt alle ein.
Er schenkt jedem das Gleiche.
Er macht keine Unterschiede.
Wer Unterschiede macht, das sind wir!
Aus: Lorenz Zellner: „Gottestherapie“
|