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„Werte“ geben dem Leben Sinn und
Orientierung. Doch die wichtigsten Werte bergen die
größten Gefährdungen! „Das Tor,
das zum Leben führt, ist eng und der Weg dahin ist schmal.“
Die zentralen Werte des
menschlichen Daseins, die wesentlich sind für die menschliche Würde, sind die wichtigsten
Voraussetzungen für ein sinnvolles und glückliches Leben. Dieses sind: ·
die Originalität des Menschen, ·
seine Freiheit ·
seine Fähigkeit zu Mitgefühl und Liebe. Sie bergen aber auch die
größten Gefährdungen und schaffen die schlimmsten Probleme.
Originalität:
Werterfahrung und Gefährdung Der Mensch sehnt sich von klein an nach Originalität, nach Einzigartigkeit. Schon in der frühesten Trotzphase möchte er als Kind den Eltern zeigen, dass er nicht nur ein Teil von ihnen ist, sondern dass er sich von ihnen zu unterscheiden gedenkt und ihnen demonstriert, dass er einen eigenen Willen hat. Im Entdecken und im Zeigen unserer Originalität können wir einander sehr verunsichern und Angst machen, bringen wir einander an die Grenze des Verstehens und spüren plötzlich, dass wir trotz manch erfahrener Vertrautheit einander fremd sind. Bei manchen löst dies Enttäuschung, ja sogar Verbitterung aus. In der Erfahrung der Originalität leiden wir zwischendurch unter einem Gefühl des Nicht-verstanden-werdens und des Nicht-verstehen-könnens gegenüber vertrauten Mitmenschen. Dies kann zu schmerzhaften Gefühlen der Einsamkeit führen. Wer diesem Schmerz ausweicht und ihn verhindern will, kann weder zu seiner Originalität finden, noch wird er den Reichtum seiner eigenen originellen inneren Welt entdecken, den Reichtum seiner inneren Bilder, Gefühle, Gedanken und Visionen. Wer aber nicht zur rechten Zeit in sich lebt, ist sehr in Gefahr. sich in unangenehmer Weise in das Leben anderer Menschen einzumischen. Seelisches Wachstum in Richtung „Entdeckung der eigenen Originalität“ ist mit Ängsten, mit Unsicherheitserfahrungen und mit seelischen Schmerzen verbunden. Da wir in unserer körperlichen evolutiven Entwicklung seit Millionen Jahren trainiert haben, Angst, Unsicherheit und Schmerzen zu meiden und zu bekämpfen, sind wir geneigt, dies auch in unserer Zeit, in der der Mensch sich geistig-seelisch entscheidend weiter entwickeln soll, zu praktizieren. Deshalb finden so wenige Menschen zu ihrer Originalität und passen sich den allgemeinen Denk- und Verhaltensmustern an, auch wenn diese geistlos und langweilig sind und unzufrieden machen.
Den Sinn seines Lebens kann man nicht einfach durch das Lesen eines Buches oder durch das Hören eines Vortrags entdecken. Es ist vielmehr ein spannender, aber auch schmerzhafter Weg des Suchens nach der eigenen Originalität, bei dem es manch dunkles Tal der Angst, der Unsicherheit und des Nicht-verstanden-werdens zu durchwandern gilt. Diesen Weg kann uns niemand abnehmen. Man kann gut damit beginnen, indem man aufhört, sich in das Leben anderer Menschen einzumischen und sich über ihre Lebensgestaltung aufzuregen und sich aus der bloßen Zuschauerrolle, zu der uns manche modernen Medien verführen, zu verabschieden, z.B. indem man einfach für einige Tage das Fernsehgerät und das Handy abschaltet.
Andererseits können Menschen, die fasziniert sind von der Lebendigkeit und Vielfalt ihrer Gefühle und Gedanken, sich einbilden, dass nur sie diesen inneren Reichtum besitzen und ihre Umgebung primitiv, oberflächlich und innerlich verkümmert ist – und deshalb halten sie sich für etwas Besonderes und beginnen ihre Mitmenschen zu verachten und gering zu schätzen. Die Erfahrung der eigenen Originalität kann sehr arrogant, besserwisserisch und menschenverachtend werden lassen. Wenn der Weg zu sich selbst, also zur eigenen Originalität, nicht mit dem Weg zum Mitmenschen und zur Lebensgemeinschaft der Natur korrespondiert, ist er ein gefährlicher Weg, der in den Egoismus führt. Der sinnvolle Weg, der „zum Leben“ führt, ist auch deshalb schmal, weil nicht nur die Verwirklichung einzelner Werte, wie der Originalität, eine schwierige Gratwanderung darstellt, sondern weil er zudem die Vernetzung polarer Werte wie z.B. Selbst- und Nächstenliebe erfordert.
Freiheit:
Werterfahrung und Gefährdung
Abertausende von Menschen haben in der Geschichte der Völker der Erde ihr Leben geopfert, um Tyrannei, Unterdrückung, Bevormundung und ungewollte Abhängigkeit abzuschütteln, um endlich in Freiheit leben zu können. Auch im individuellen Leben ist Pubertät und Jugendzeit mit ihren Konflikten und Spannungen vom Streben nach Freiheit und Eigenständigkeit gekennzeichnet. Und manche Tierschützer protestieren gegen die Haltung von Zirkustieren, weil sie tiefes Mitleid empfinden mit den Tieren, die man der Freiheit des Lebens in der Natur beraubt hat und sie in enge Käfige sperrt. Freiheit hat mit Weite und eigenen Wegen zu tun. Freiheit hat mit Eigenständigkeit und mit der Möglichkeit persönlicher Entscheidungen zu tun, die dazu führen sollen, dass man den Weg, den man in seinem Leben geht, als seinen eigenen erkennt und sich dazu bekennen und sich mit ihm identifizieren kann. Ich treffe immer wieder alte Menschen, die klagen, dass sie heute noch darunter leiden und es ihren Eltern nicht verzeihen können, dass sie mit jungen Jahren nicht den Beruf ergreifen durften, den sie wollten, sondern von den Eltern gezwungen wurden, deren Willen zu erfüllen. Eine ähnliche Verbitterung tragen manche in sich, weil sie in der Partnerwahl bevormundet worden waren und nicht frei entscheiden durften. Ohne Freiheit in unseren wesentlichen Entscheidungen finden wir nicht zu uns selbst, erfahren wir uns fremdgesteuert und leben nicht unser eigenes Leben. Ohne Freiheit gibt es keine moralisch tragfähigen Entscheidungen und keine Erfahrung von der Würde und Werthaftigkeit des eigenen Menschseins. Ohne Freiheit gibt es keine Verantwortung, keine Schuld und keine Rechenschaft. Ohne Freiheit können wir das Leben nicht als sinnvoll erfahren. Sicher wissen wir um Manipulationen und unbewusste Beeinflussung unseres freien Willens, der keinesfalls immer so frei ist, wie wir glauben. Doch entscheidend ist das Bewusstsein, dass wir meinen, frei entscheiden zu können, entscheidend ist das, was wir als Freiheit empfinden. Denn nur aus diesem Empfinden von Freiheit lassen sich Manipulationen unter Umständen erkennen und abbauen. Nun wissen wir, dass wir im Leben, z.B. in der Berufswelt, viele Kompromisse schließen müssen, um wirtschaftliche Sicherheit zu gewinnen. Für einen erheblichen Teil der Bevölkerung ist es notwendig, sich in gewisser Weise zu verkaufen, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Für manche ist es eine schwierige Gratwanderung, wie vielen Zwängen man bereit ist, sich zu unterwerfen, um viel Geld zu Gunsten eines hohen Lebensstandards zu verdienen. Nicht wenige Menschen schwenken plötzlich um und sind mit deutlich weniger Einkommen zufrieden, um wieder mehr Freiheit in Form von Zeit für die Familie und für die persönliche Freizeit zu gewinnen oder einfach um eine Befreiung aus Zwängen in einer unmenschlich gewordenen Wirtschaftswelt zu finden. So erzählte mir der Leiter einer Filiale eines Konzerns, der Niederlassungen auch in Südamerika hatte: „Ich habe die Führungsaufgabe in einem südamerikanischen Tochterunternehmen aufgegeben, obwohl ich dort mehr als das Doppelte verdiente, da ich die Beschäftigten dort nicht so brutal behandeln wollte, wie es von mir gefordert wurde und wie es dort üblich war, da es kein Betriebsverfassungsgesetz gab.“
Vielleicht beneiden wir manchen Künstler oder andere freischaffenden Menschen, die völlig unabhängig von institutionellen oder betrieblichen Strukturen, keine Vorgesetzten und keine Untergebenen unter beziehungsweise über sich haben und von den Ergebnissen ihrer persönlichen Kreativität leben können. Viele von diesen unabhängig lebenden Menschen verzichten dafür auf manchen Komfort, den unsere Konsumwelt zu bieten hat. Welche Art von Freiheit ist uns wichtiger? Für die meisten Menschen ist jene Freiheit wesentlich, unter möglichst vielen Fernsehprogrammen wählen zu können und von jedem Ort aus mit dem Handy Freunde anrufen zu können oder dreimal im Jahr mit dem Flugzeug in den Urlaub fliegen zu können oder alle fünf Jahre eine neue Polstergarnitur fürs Wohnzimmer aussuchen zu können. Durch welche Art von Freiheit wird der Mensch zu seiner Originalität finden und eine innere Lebendigkeit entwickeln, die ihn nicht gieriger und unruhiger, sondern zufriedener und energetischer macht? Jeder muss selbst hinspüren, wie er die Gratwanderung zwischen den Freiheiten, die die Konsumwelt bietet und der Freiheit von den beruflichen und gesellschaftlichen Zwängen, die damit oft verbunden sind, zu gestalten gedenkt. Aber es sind auch die weltwirtschaftlichen und ökologischen Auswirkungen unserer Entscheidungen zu bedenken.
Rechtsstaatliche Verfassungen vieler Völker haben das Grundrecht der Rede- und Meinungsfreiheit in ihren Formulierungen aufgenommen. Aber die gesellschaftspolitische Absicherung dieser Freiheit bewirkt noch keineswegs, dass die Menschen auch tatsächlich sagen, was sie denken. Denn unabhängig vom gesellschaftlichen Freiraum gibt es noch den seelischen Raum, nicht nur im eigenen Leben, sondern im Denken und Fühlen unserer Mitmenschen. Wenn wir diesen Raum des Wohlwollens bei den anderen nicht zu haben glauben, weil wir mit abwertendem Denken und Reagieren unserer Mitmenschen rechnen, ist die politisch garantierte Meinungsfreiheit nur eine halbe Sache. Wir brauchen die Wertschätzung und das Vertrauen von Mitmenschen, damit wir uns aus dem Gefängnis der Angst und des Misstrauens, in dem wir uns zum Schutz unseres Inneren selbst eingemauert haben, heraus wagen. Deshalb braucht es nicht nur das politische Engagement, um den Raum der Freiheit zu schützen und auszuweiten, es braucht auch das seelische Engagement, um die Atmosphäre der Angst und Verlogenheit, des Misstrauens und der Verachtung zu überwinden.
Im Ringen um Freiheit und im Genießen der Freiheit sind wir immer in Gefahr, sie auf Kosten anderer zu leben. Das spüren Kinder, deren Eltern für sie wenig Zeit haben, das spüren Eltern, die unter den Erwartungshaltungen und den jugendlichen Freiheits-Eskapaden ihrer Kinder leiden. Das erfahren Ehepartner, wenn der andere Freiheiten genießt, die die Treue missachten. Das erleben Arbeitnehmer, denen Arbeitslosigkeit droht, weil der Unternehmer seit Jahren in unangemessener Weise Gewinne abschöpft, die den Betrieb ruinieren. Damit waren ganze Völker, ja die ganze Weltwirtschaft konfrontiert, als Bankmanager durch ihre ungezügelte und unverantwortliche Geldgier das Weltfinanzsystem an den Rand des Abgrunds brachten. Freiheit und Egoismus sind nahe Verwandte. Aber ohne Freiheit gibt es keine Würde des Menschen und kein wirklich sinnvolles Leben. Bei den Abertausenden von Gesetzen und Regeln in Politik, Gesellschaft und Wirtschaft geht es vor allem darum, die Freiheit und Willkür der Stärkeren, der Mächtigeren und Rücksichtsloseren einzuschränken, um Gerechtigkeit und sozialen Frieden aufrechtzuerhalten.
Das Thema ist dramatisch seit Menschen bewusst ihr Zusammenleben gestalten. Dostojewski hat es in seinem „Der Großinquisitor“ behandelt, in dem es darum geht, Jesus, der nochmals erschienen ist, zu überzeugen, dass seine Botschaft von der Liebe, von der Verantwortung und Freiheit des Menschen unrealistisch sei und die Menschheit nur durch Zwang und Einschüchterung zu einem geordneten Leben geführt werden könne. In wenigen Ländern sind solche entmündigenden Herrschaftsformen durch fundamentalistische Religionen heute noch vorhanden. Nicht weit davon entfernt war das Programm des Kommunismus in den osteuropäischen Ländern und auch in manchen anderen Teilen der Welt. Es galt, die Freiheit des einzelnen drastisch einzuschränken, um eine Gesellschaft aufzubauen, in der der Missbrauch der Freiheit in Form von wirtschaftlicher Ausbeutung und Unterdrückung verhindert werden sollte. Sowohl gegenüber inquisitorischen Religionen wie auch gegen das kommunistische System der Sowjetunion hat sich der Freiheitsdrang der Menschen immer wieder aufgelehnt und es ist wohl nur eine Frage der Zeit, bis er sich überall in der Welt durchsetzt. Dass es in der modernen technisch geprägten Welt ganz neue Formen von Freiheitsgefährdungen gibt, hat George Orwell in seinem bleibend aktuellen Roman „1984“ beschrieben, in dem er in einer Negativ-Utopie eine Welt präsentiert, in der jeder einzelne durch Überwachungskameras bis in seine Privatwelt hinein von einer anonymen Staatmacht kontrolliert und gesteuert wird. Die Datenschutzbeauftragten unserer Zeit sind ein Symptom dafür, dass es der Tendenz in dieser Richtung auch in einem sich freiheitlich verstehenden Rechtsstaat zu wehren gilt. Wie damit in autoritäreren Gesellschaftssystemen umgegangen wird, ist den meisten von uns wohl wenig bekannt. Aber die diesbezüglichen Möglichkeiten der Technik sind beängstigend.
Andererseits nimmt das Drama des Freiheitsmissbrauchs in Form der Zerstörung unserer ökologischen Lebensgrundlagen immer beängstigendere Formen an. Wie schwer ist es angesichts der drohenden Klimakatastrophe die Mehrkosten für die Reduzierung des CO2-Ausstoßes aufzubringen, der den Klimawandel stoppen soll. Eine auch nur vorübergehende Einschränkung der Freiheit, die die billige Autofahrt symbolisiert, erscheint Millionen Menschen unerträglich und im Konkurrenzkampf der Volkswirtschaften will man keine Wettbewerbsnachteile in Kauf nehmen. Auch wenn in manchen großen Völkern der Pro-Kopf-Verbrauch an Energie und Rohstoffen zehn- bis dreißigmal höher ist als in anderen großen Völkern, wehrt man sich von Seiten der Mächtigeren mit ungeheurer Verbissenheit, den Weg zu einem gerechten Ausgleich zu beschreiten. Der Freiheitsanspruch des Menschen, der das komplizierte Wunder der Demokratie hervorgebracht und die Menschenrechte formuliert hat, ist nun dabei, alles Gewonnene wieder zu verlieren, wenn es nicht gelingen sollte, die Freiheitbestrebungen mit dem Bemühen um Gerechtigkeit, um Solidarität mit den Schwächeren auf Weltebene und mit der Verantwortung für die Zukunft der ökologischen Lebensgrundlagen unseres Planeten zu verbinden. Die herrlichsten Werte enthalten gleichzeitig die größten Gefährdungen, wenn sie nicht in der Vernetztheit mit den anderen zentralen Werten gelebt werden. Freiheit ohne die Fähigkeit zum Mitgefühl, ohne innere Verbundenheit mit dem Ganzen der Lebensgemeinschaft auf unserer Erde, wird zum blinden Egoismus, der auch noch den Ast abschneidet, auf dem man selber sitzt oder sich klammert an die Lebenseinstellung „nach uns die Sintflut“.
Liebe und Mitgefühl: Werterfahrung und Gefährdung
„Es ist oft leichter einen Menschen zu lieben, als ihn zu achten“
Das Mitgefühl ist die seelische Verbundenheit zwischen uns Menschen. Diese Verbundenheit spüren wir rund um den Erdball, wenn wir vom Schicksal von Menschen berührt werden, auch wenn diese Tausende von Kilometern von uns entfernt leben oder sich in einem Raumschiff über uns im Weltall aufhalten. Aber besonders wichtig ist das Mitgefühl als Grundlage des Zusammenlebens in Partnerschaft und Familie, in Gruppen und Vereinen. Das Mitgefühl ermöglicht ein Zusammengehörigkeitsgefühl, weckt Solidarität in Problemlagen aller Art und bewegt uns dazu, uns für Gerechtigkeit und Hilfsaktionen einzusetzen. Es ist die Quelle unserer Visionen für eine menschenwürdigere Welt für alle und es enthält die Erfahrung einer Verbundenheit, die auch beim Tod von Angehörigen und Freunden nicht stirbt. Die Religionen betrachten sie als etwas Göttliches, das dem Zusammenleben eine Seele einhaucht, das die Welt – nicht nur der Menschen, sondern die Gemeinschaft allen Lebens - im Innersten zusammenhält und Diesseits und Jenseits miteinander verbindet. Ohne Liebe und Mitgefühl werden die anderen Werte der Originalität und Freiheit in den Egoismus, in die Einsamkeit und Sinnlosigkeit führen.
Nun werden manche denken, Mitgefühl als eine wichtige Grundlage der Liebe ist ein Wert, der in jedem Fall nur positiv ist und keine Gefährdungen verursacht- höchstens Selbstgefährdungen wie bei Jesus, bei Martin Luther King, bei Mahatma Gandhi und anderen, deren Liebe ungerechte religiöse oder gesellschaftspolitische Systeme erschütterten, deren Leben aber auch deshalb durch Ermordung endete. Aber es ist eine
allgemeine Überzeugung: wenn ich etwas aus Liebe tue, ist es in jedem Fall
gut und wertvoll.
Nächstenliebe kann den
Bedürftigen, der meine hilfsbereite Zuwendung erfährt, demütigen und klein
machen, kann ungesunde Abhängigkeit schaffen und Eigenverantwortung
verhindern, so wie wir es bei einer Überbemutterung von Kindern ebenso
beobachten können wie bei einer wirtschaftspolitischen Entwicklungshilfe, die
nicht als Hilfe zur Selbsthilfe gestaltet wird. Entsprechend protestierten
manche Menschen in armen Ländern: „Wir wollen kein Mitleid, wir wollen
Gerechtigkeit!“ Liebe und Mitgefühl
müssen von Achtung und Respekt gegenüber dem Mitmenschen getragen sein, sonst
wirken sie negativ. Echte Hilfe sieht nicht nur die materielle Not, sondern
auch die Bedürftigkeit nach Anerkennung und nach einer Wertschätzung, die
erfahren lässt, dass alle Menschen auf Grund ihrer menschlichen Würde
seelisch auf der gleichen Ebene stehen, dass es da kein oben und unten gibt,
ob arm oder reich, ob gebildet oder ungebildet, ob mächtig oder ohnmächtig,
wir haben alle dieselbe menschliche Würde und absolute Werthaftigkeit. Jeder
ist ein unauslotbarer Kosmos an Gedanken und
Gefühlen, an Hoffnungen und Visionen. Mit dieser Anerkennung
einer grundsätzlichen Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung einander zu
begegnen und einander zu behandeln ist entscheidend, damit Mitgefühl und
Liebe das Zusammenleben in rechter Weise beseelen und heilen können. Besonders in einer Paarbeziehung und zwischen Eltern und Kindern braucht die Liebe auch die Achtung vor der Eigenart des anderen, braucht die Akzeptanz der Originalität des anderen, den man nicht besitzen darf oder meint für sein Glück und seinen Lebenssinn verantwortlich zu sein. Menschen können einander viel geben, können einander unendlich viel bedeuten, aber mit noch so viel Liebe kann und darf man nicht dem anderen den Lebenssinn liefern wollen. Gesunde Liebe ist nicht nur seelische Verbundenheit, Zuneigung und Nähe, sondern braucht auch Abgrenzung und Abstand, braucht Rückzug und ein Für-sich-sein, damit der Mensch auch im Mitgefühl zu seiner Originalität, zu seiner inneren Souveränität und Eigenverantwortung finden und diese bewahren kann. Da man sich gegen vereinnahmende Liebe so schwer wehren kann (der andere meint es doch so gut und tut so viel für mich!), entstehen hier oft die schlimmsten Formen von Depressionen, versteckte Aggressionen und Selbstmord-Tendenzen.
Liebe und
systemische Verstrickung
Nun gibt es noch ein weiteres Problem mit dem Mitgefühl, das die systemische Psychologie erkannt hat. Wir sind – ob uns dies bewusst ist oder nicht – mit unseren Familienmitgliedern und Vorfahren seelisch verbunden. Manche besonders mit jenen, die ein schweres Schicksal hatten oder vergessen, verachtet und ausgegrenzt wurden, - vielleicht weil sie schwierige Menschen waren. Unser Unbewusstes speichert nicht nur die Verdrängungen aus unserer eigenen Lebensgeschichte, sondern kann auch ein so starkes Mitgefühl mit dem Lebensschicksal eines Vorfahren entwickeln, dass dies zu einer unbewussten Identifikation führt. Diese Art des Mitgefühls kann mächtiger sein, als die Gefühle, die durch unsere eigenen Erlebnisse ausgelöst werden. Dadurch erleben wir uns seelisch besetzt und belastet von Gefühlsenergien, die uns verwirren, weil wir ihre Ursache nicht erkennen. Vielleicht sind wir traurig oder aggressiv, fühlen uns ständig benachteiligt oder voller Schuldgefühle und wissen nicht warum. Wenn wir unsere Gefühlszustände nicht verstehen, können wir uns wie gelähmt fühlen, da wir nicht wissen, welche Art von Handlungen diese Gefühle ausgelöst haben oder welche Art von Handlungen uns von diesen belastenden Gefühlen befreien könnten, oder wir sind ständig auf der Flucht vor unserem Inneren durch Ablenkungen aller Art; so werden wir hektisch und unruhig und können nicht zu uns selbst finden. Dadurch werden wir schwierig und lästig für unsere Mitmenschen; aber geraten auch in Minderwertigkeitsgefühle und in tiefe Unzufriedenheit, die sich in einer gefährlichen Lebensgier aller Art auswirken kann. In manchen Familien führt dies zur Wiederholung schlimmer Schicksale, indem z.B. in drei Generationen hintereinander tödliche Unfälle, Suizide oder schwere Krankheiten sich ereignen. Besonders problematisch ist diese Art seelischer Verbundenheit mit den Vorfahren, weil sie dazu führt, dass Menschen ihrem Inneren nicht vertrauen können, dass sie ihre Gefühlswelt nur als belastend und verwirrend empfinden und nicht lernen, von dort her die Signale für ihre moralischen Entscheidungen zu empfangen, durch die sie eigenverantwortlich und mündig ihr Leben gestalten könnten. Deshalb neigen solche Menschen zu Autoritätshörigkeit und befürworten autoritäre Ordnungssysteme in Religion, Politik und in allen Bereichen der Gesellschaft. Sie vertrauen auf Fremdsteuerung und glauben nicht an emotionale Mündigkeit.
Diese Art unbewusster Liebe ist also sehr gefährlich und kann nur durch eine Verwandlung des unbewussten Mitgefühls in ein bewusstes Mitgefühl aufgelöst werden. Dies geschieht, indem man sich mit dem Schicksal der Vorfahren beschäftigt und bewusstes Mitgefühl aufbringt für jene, die ein schweres Schicksal hatten. Ein befreiender Ritus lautet:
„Ich fühle mit dir.
Auch Mitgefühl und Liebe brauchen also eine gesunde Ordnung, brauchen die Achtung des Mitmenschen und seiner Originalität, brauchen die Achtung des Schicksals der Vorfahren, sonst wird das Wertvolle zur Gefährdung, wird das Sinngebende zur Sinnzerstörung.
Schlusswort
Die rechte Ordnung der Werte Originalität, Freiheit und Mitgefühl ist entscheidend, damit die Verheißung des Propheten Jeremia (ca. 600 v.Chr.) im Alten Testament sich erfüllen kann, in der es heißt:
„Ich lege mein Gesetz in sie hinein und schreibe es
auf ihr Herz.
„Erkenntnis Gottes“ bedeutet vor allem Erkenntnis
der Werthaftigkeit unseres Lebens, Manfred Hanglberger (www.hanglberger-manfred.de) LINK zum Teilen: https://hanglberger-manfred.de/neu-evangelisierung-gratwanderung-zwischen-werten.htm |
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„Von innen her leben“: der schwierige Weg zu einem
verantwortungsvollen Gewissen |