Zeitgemäße Gewissensbildung,
um geistlichen Missbrauch zu verhindern
Dazu
ein Zitat aus dem Konzilsdokument „Gaudium et Spes“
(„Die Kirche in der Welt von heute“) Kap 17:
Die
Würde des Menschen verlangt,
dass er in bewusster und freier Wahl handle,
das heißt personal,
von innen her bewegt und geführt
und nicht unter blindem innerem Drang oder unter bloßem äußerem Zwang.
Aus
dem nachsynodalen Schreiben „Amoris Laetitia“ Kap
37:
Wir sind berufen, die Gewissen zu bilden,
nicht aber dazu,
den Anspruch zu erheben, sie zu ersetzen.
Die folgenden Überlegungen zeigen, dass
Gewissensbildung eine keineswegs umfassend verwirklichte Aufgabe der Kirche
darstellt und viele diesbezügliche Mängel auch auf beschämende Defizite im
Dialog zwischen Glaubenslehre und den Erkenntnissen der modernen Psychologie
zurückzuführen sind.
Viele Fehlformen des Christentums wie auch
anderer Religionen haben mit dem Fehlen angemessener Gewissensbildung zu tun.
Nach meiner Überzeugung stehen auch manche heftigen Angriffe und manche
Ablehnung des Glaubens mit diesem Defizit in Zusammenhang.
Was ist nun für eine zeitgemäße christliche Gewissenbildung zu bedenken?
1.
Der Mensch hat aufgrund seiner
Vernunftkräfte die Möglichkeit die Auswirkungen seiner Entscheidungen zu
bedenken und durch die Wahrnehmung der Auswirkungen für seine
Lebensgestaltung dazuzulernen.
Dies ermöglicht ihm die Erfahrung von Freiheit, die wesentlich die
Würde seines Menschseins prägt und ihm eine Verantwortung für seine
Entscheidungen und Handlungen bewusst macht.
2. Da der Mensch aufgrund seiner Vernunftkräfte nach
dem Sinn und Wert seines Daseins und nach dem Sinn und Wert der menschlichen
Gemeinschaften, mit denen sein Leben vernetzt ist, wie auch nach dem Sinn und
Wert der Gesamtwirklichkeit fragt, hat er eine Sensibilität für
Wert-Erfahrungen entwickelt.
In der abendländisch-christlichen Tradition haben sich folgende Werte als grundlegend
herausgestellt:
-
die absolute Werthaftigkeit der Personwürde jedes
Menschen
(„Personalität“
und „Subsidiarität“),
-
ein regionales und universales Gemeinwohl („Solidarität“)
-
Schöpfungsverantwortung
(Werthaftigkeit
der Lebensgemeinschaft der Natur: „Alles ist miteinander verbunden“, die
anderen Geschöpfe haben eine Lebensberechtigung in sich: Siehe: Enzyklika „Laudato si“)
3. Während in langen geschichtlichen Epochen Menschen
von klein an zum Gehorsam gegenüber „Autoritäten“ (Eltern, Lehrer,
Priester, Vorgesetzte, Herrscher) verpflichtet wurden, wurde „Freiheit“ in
diesem Umfeld als Bereitschaft verstanden, den Anordnungen und den Gebote-
und Verbote-Systemen, die von diesen Autoritäten verkörpert wurden, Folge zu
leisten bzw. diesen Gehorsam zu verweigern.
Das grundsätzliche Vergehen wurde deshalb im „Ungehorsam“ gesehen. Denn der
Ungehorsam schien die Ordnung zu zerstören und die „Autorität“, die die
Ordnung aufrechterhalten sollte, zu schädigen.
„Werte“ sah man vornehmlich in der Aufrechterhaltung
einer Ordnung gegeben; dazu gehörten neben dem „Gehorsam“ z.B. Demut,
Dienstbereitschaft, Unterordnung, Anpassungsfähigkeit, Zuverlässigkeit,
Treue, …
4. Dabei wurden die primären Werte, in denen sich die Personwürde verwirklicht, meist übersehen und oft
unterdrückt – wie z.B.:
Selbsterkenntnis, Selbstvertrauen, Verantwortungsfähigkeit,
Entscheidungsfähigkeit, Kommunikationsfähigkeit, …
Dass es eine Rangordnung der Werte gibt und dabei die sekundären
Ordnungswerte den personalen und mitmenschlichen Werten untergeordnet sind,
hat Jesus schon vor ca. 2000 Jahren deutlich gemacht:
„Der Sabbat ist für den Menschen da, nicht der Mensch für den Sabbat!“
Eine ähnliche Botschaft enthält das „Gleichnis vom barmherzigen Samariter“:
Der mitleidsvoll handelnde Häretiker (Samariter) wird den gesetzestreuen
Autoritäten der Religion (Priester und Levit) gegenüber gestellt.
5.
Entsprechend kommen im Munde Jesu,
so wie es uns die Evangelisten überliefern, die Worte „Gehorsam“ und
„gehorchen“ für den Menschen nie vor. Stattdessen erzählt Jesus Gleichnisse,
Geschichten aus dem Leben, um die Menschen einzuladen, mit ihrer eigenen
Wahrnehmung, mit ihren Sinnen und ihrem moralischen Gespür die Situationen
einzuschätzen und entscheidungsfähig zu werden.
Die Gleichniserzählungen sind also eine Schulung
der Jünger Jesu und der Gläubigen zu seelisch-geistiger Mündigwerdung und für
die Entwicklung eines eigenständigen verantwortungsvollen Gewissens.
„Gehorsam“ war bei Jesus offensichtlich keine
Werte-Kategorie, sondern stand im Gegensatz zum Weg der Mündigwerdung und zur
geistig-seelischen Selbständigkeit.
(Ausführlicher: Autoritätsverständnis bei Jesus >>>)
6. Ein an Werten
orientiertes Leben ist eine Gratwanderung,
da personale Werte eine polare Struktur aufweisen:
Selbstliebe und Nächstenliebe,
Selbstwahrnehmung und Mitgefühl, Zuwendung und Achtung, Freiheit und
Verpflichtung, …
Deshalb ist die Erkenntnis der gesunden Balance und der gesunden
Rangordnung von Werten Voraussetzung für angemessene Gewissensentscheidungen.
(Ausführlicher >>>
)
Schlimme Konflikte und destruktive Verhaltensweisen sind deshalb meist nicht
die Folge der Bosheit von Menschen, sondern die Folge einer unausgewogenen
Balance von polaren Werten (Zuviel
Selbstliebe – zu wenig Nächstenliebe; zu wenig Selbstwahrnehmung – zu viel
Mitgefühl führt zur Vereinnahmung des anderen) oder einer falschen
Rangordnung von Werten – wenn z.B. sekundäre Werte (Ordnungswerte) vor
personalen Werten rangieren.
7.
Mündigkeit und seelisch-geistige
Selbständigkeit, also ein verantwortungsvolles Leben nach dem eigenen Gewissen,
ist also kein primitives „Ich mache, was ich will!“, sondern erfordert eine
sensible Wachheit gegenüber der augenblicklichen Situation, eine
Aufmerksamkeit nach innen und nach außen, erfordert die Mühe der Information,
des Nachdenkens und eines sorgfältigen Abwägens der Werthaftigkeit
verschiedener Möglichkeiten und deren eventueller Folgen.
Und weil wir auch in moralischen Fragen „das Rad nicht erst neu erfinden“
können und müssen, ist es bei grundlegenden Fragestellungen notwendig, die
Werte-Erfahrungen der Vorfahren in unsere Entscheidungen miteinzubeziehen.
Sehr grundsätzliche und konzentriert gesammelte Werte-Erfahrungen enthalten
die „Heiligen Schriften“ und Traditionen der Religionen. Da vieles aber darin
zeitbedingt und deshalb für heute nicht mehr gültig ist, ist mit diesen
Texten sehr kritisch und vorsichtig umzugehen. (Ausführlicher dazu: >>> )
Menschen, die noch nicht gelernt haben, „von innen geführt“ zu leben, sind in
Gefahr, die Gebote- und Verbote-Systeme einer Religion wortwörtlich für heute
zu übernehmen.
Zu welch destruktiven Folgen diese führen kann, zeigen die
fundamentalistischen und gewaltbereiten Gläubigen in den verschiedenen
Religionen.
Warum manche Menschen lieber sich an
vorgegebene Gesetze, Traditionen und Ordnungssysteme halten und großen
Widerstand gegen jeden Wertewandel und gegen alle Neuerungen leisten:
Wegen Gefühlsverwirrung und Angst vor Gefühlen fehlt die innere Orientierung.
8. Nicht wenige Menschen haben Angst vor der
Freiheit, denn sie bedeutet:
Man muss selbst entscheiden, man muss selbst überlegen, man muss sich
informieren, und im Nachhinein muss man für eigene Entscheidungen
geradestehen. Man wird „sichtbar“ für andere und kann dadurch auch auf
Widerstand stoßen, man wird angreifbar und kritisierbar.
Es ist bequemer, andere entscheiden zu lassen und sich dann evtl. darüber
aufzuregen und zu schimpfen, wenn einem die Auswirkungen dieser
Entscheidungen unangenehm sind. Aber solche Menschen weigern sich insgeheim,
erwachsen zu werden, sondern bleiben in einem kindlichen bis pubertären
Entwicklungsstadium.
9.
Wenn Menschen in der Kindheit durch
Schicksalsschläge emotional überfordert waren und deshalb mächtige Gefühle
verdrängen mussten (Trauer, Angst, Schmerz, …), kann dies dazu führen, dass
sie grundsätzlich Angst vor Gefühlen bekommen und deshalb ihr gesamter
Gefühlshaushalt niedergedrückt wird.
Da die Gefühlsimpulse wesentliche Entscheidungshilfen liefern, fehlt diesen Menschen
die innere Orientierung; denn auch rationale Überlegungen brauchen als
unbewusste Grundlage die emotionalen Impulse von innen.
Deshalb suchen sich solche Menschen Orientierungshilfen von außen.
Dies können Autoritätspersonen sein, dies können Traditionen oder religiöse
oder politische Gebote- und Verbote-Systeme sein. Da diese vorgegeben sind
(„Es steht geschrieben …“; „wir haben ein Gesetz …“), haben sie eine
geistig-seelisch erstarrende Wirkung und verhindern, auf neue Situationen,
auf neue Erkenntnisse und auf die Vielschichtigkeit komplexer Probleme
differenziert zu reagieren.
Manche dieser Menschen sind besonders anfällig für ideologische
Weltanschauungen und Wertesysteme, die auf komplexe Probleme mit einfachen
schwarz-weiß-Antworten reagieren und kein sehr differenziertes und
langfristiges Prozess-Denken erfordern.
Deshalb werden solche Menschen leicht Opfer von Demagogen und populistisch
lautstarken Politikern oder Religionsführern.
10.
Da die Angst vor Gefühlen und die
dadurch fehlende innere Orientierung – oft unbewusste –
Minderwertigkeitsgefühle verursachen, klammern sich solche Menschen dann
starr an vorgegebene Werte-Systeme, die sie unter keinen Umständen infrage
stellen lassen und deren Kritiker sie mit unangemessenen Aggressionen, mit
Verachtung und Entrüstung zurückweisen.
Umgekehrt verleiten Minderwertigkeitsgefühle dazu, autoritätshörig sich
Anweisungen von außen zu unterwerfen.
Menschen, denen die innere Orientierung fehlt, können die vielfältigen
Nuancen des Lebens und die Vielschichtigkeit komplexer Problemsituationen
nicht wahrnehmen; deshalb gibt es für sie nur „gut“ oder „böse“,
gesetzeskonform oder gesetzwidrig.
Dagegen wissen Menschen mit einer gesunden
Emotionalität, dass z.B. im Gefühl der Liebe auch ein Anteil von
Vereinnahmung oder Verachtung enthalten sein kann oder im Gefühl des Zornes
auch ein Anteil von Liebe.
Wertvolle Hinweise für ein verantwortungsvolles Umgehen mit komplexen
Problemen sind in dem nachsynodalen Schreiben „Amoris
Laetitia“ zu finden. >>>
Das Gegenteil davon kann man bei den Kritikern dieses Lehrschreibens
entdecken.
11. Während Gefühlsblockaden dazu führen, dass man
die innere Orientierung verliert und deshalb u.U. sich an eine
Außenorientierung klammert, kann die Verdrängung starker Gefühle in der
Kindheit dazu führen, dass wir in der Gegenwart unausgewogene, heftige
Gefühlsreaktionen spüren, die uns in die Irre leiten:
In der Kindheit verdrängte Gefühle (Zorn, Abscheu, Trauer, Sehnsucht, …)
können durch relativ unbedeutende Auslöser in der Gegenwart hervorbrechen und
uns so beherrschen (Jähzorn, Verachtung, Mutlosigkeit, Ängstlichkeit, Suchtverhalten,
…), dass unsere Handlungen den Boden des Moralischen verlassen oder dass wir
unangemessene Entscheidungen treffen.
Manche Menschen, die solches erlebt haben, trauen anschließend ihren Gefühlen
nicht mehr und suchen verstärkt Orientierung in einem starren
Gebote-Verbote-System.
Weitere
Gründe, warum manche Menschen in ihren Entscheidungen sehr eigenwillig und
stur sind und gegenüber Einwänden und andersartigen Positionen verschlossen
reagieren:
12.
Z.B. wenn jemand in der Kindheit oder
in der Jugendzeit durch den Ausfall von Eltern zu schnell erwachsen werden
musste. Da war man gezwungen, ständig schon wichtige Entscheidungen zu treffen,
hatte aber in diesem Alter noch wenig Lebenserfahrung und nicht die Zeit und
Energie, Argumente für und gegen eine bestimmte Entscheidung ausführlich
abzuwägen. So lernte man, Entscheidungen schnell zu treffen, diese eisern
durchzuhalten und sie nicht infrage zu stellen oder infrage stellen zu
lassen, um nicht in Unsicherheit zu geraten. Denn dies hätte einem die Kraft
geraubt, die man für so viele kleine alltägliche Aufgaben so dringend
brauchte.
Da solche Menschen oft durchaus erfolgreich sind mit ihren Entscheidungen,
fühlen sie sich dann ihren Alterskollegen, die solchem Entscheidungsdruck
noch nicht ausgesetzt waren, überlegen und lassen sich dann ungern von jemand
anderem in ihre Entscheidungen hineinreden.
Andererseits sind sie in Gefahr zwischendurch in die ungelebten
jugendlichen Altersphasen zurückzufallen, die sie damals überspringen
mussten. Die unbewusste Sehnsucht danach birgt die Gefahr, „jugendliche“
Entscheidungen zu treffen, die sich für die gegenwärtige Lebenssituation als
unangemessen erweisen und in der Umgebung dann Unverständnis auslösen.
Manche Ehescheidungen und wirtschaftliche Insolvenzen haben solche
Schicksalsmuster im Hintergrund.
Warum manche Menschen sich nicht
entscheiden können oder in Gefahr sind, falsche Entscheidungen zu treffen:
13.
Während manche Menschen sich sehr
schnell entscheiden und Einwänden gegenüber verschlossen reagieren, haben
andere Menschen größte Schwierigkeiten, sich zu entscheiden. Sie schieben
anstehende Entscheidungen ständig hinaus, weil sie immer Angst haben, sich
falsch zu entscheiden, und sie stellen gefällte Entscheidungen im Nachhinein
immer wieder infrage und versuchen manchmal sogar, solche wieder rückgängig
zu machen.
Wenn es sich um wichtige Entscheidungen wie z.B. Partnerwahl, Berufswahl,
Hauskauf, … handelt, kann dies zu einer Katastrophe für den ganzen Lebensweg
werden.
Auch solche Menschen haben gewöhnlich die innere Orientierung durch
Nicht-Wahrnehmung der Gefühle verloren und merken, dass auf der rationalen
Ebene immer ähnlich viele Gründe gegen eine bestimmte Entscheidung sprechen
wie für diese.
Denn rationale Gründe allein, die nicht eine Gewichtung durch emotionale
Impulse bekommen, heben sich oft gegenseitig auf und können so zu einer
geistigen Lähmung führen.
14.
Ein weiterer Hintergrund für eine
solche Entscheidungshemmung kann auch sein, dass man als Kind im guten
Glauben kleine Entscheidungen getroffen hat, für deren negative Auswirkungen
man von wenig einfühlsamen Eltern heftig kritisiert und abgewertet wurde.
Da die Zuverlässigkeit der emotionalen Verbundenheit mit den Eltern, die hier
plötzlich erschüttert wurde, Vorrang hat vor den Gefühlen, die eine kindliche
Entscheidung auslöste, wird ein Kind zukünftig den eigenen Emotionen nicht
mehr vertrauen, sondern sich nach dem Willen der Eltern richten, also sich
einer Außensteuerung ausliefern, um die Zuwendung der Eltern nicht zu
verlieren. Die Orientierung an einer „Außensteuerung“ kann dann ein Leben
lang erhalten bleiben.
15.
Ein weiterer Grund für
Entscheidungshemmung:
Eine Frau war als kleines Mädchen in eine extreme Helfer-Rolle für ihre
Mutter geraten, da diese sich gegen die Abwertungen, Beschimpfungen und
Schläge des Ehemannes nicht wehren konnte. Die Mutter klammerte sich an die
Tochter. Die Sorge für sie und die Liebe zu ihr gaben ihr eine gewisse
Daseinsberechtigung und emotionale Lebendigkeit.
Das Mitgefühl und die Sorge um die Mutter beschäftigten die Tochter die ganze
Kindheit und Jugendzeit emotional so sehr, dass sie nicht lernte, sich selbst
wahrzunehmen. Diese „Besetzung“ ihrer Psyche durch die starken Gefühle der
Mutter verhinderten, dass sie zu sich selbst finden konnte und dass sie
deshalb – wie es in der Pubertät notwendig wäre – sich nicht vor der
Emotionalität der Eltern schützen konnte.
Später geriet sie in Panik und tiefe Minderwertigkeitsgefühle, wenn sie für
sich selbst wichtige Entscheidungen treffen sollte.
16. Nun gibt es noch ein weiteres Problem mit der
Besetzung durch fremde Gefühle, das die systemische Psychologie erkannt hat:
Wir sind – ob uns dies bewusst ist oder
nicht – mit unseren Familienmitgliedern und Vorfahren seelisch verbunden.
Dies besonders mit jenen, die ein schweres Schicksal hatten oder vergessen,
verachtet und ausgegrenzt wurden, - vielleicht weil sie schwierige Menschen
waren. Unser Unbewusstes speichert nicht nur die Verdrängungen aus unserer
eigenen Lebensgeschichte, sondern kann auch ein so starkes Mitgefühl mit dem
Lebensschicksal eines Vorfahren entwickeln, dass dies zu einer unbewussten
Identifikation führt. Diese Art des Mitgefühls kann mächtiger sein, als die
Gefühle, die durch unsere eigenen Erlebnisse ausgelöst werden. Dadurch
erleben wir uns seelisch besetzt und belastet von Gefühlsenergien, die uns
verwirren, weil wir ihre Ursache nicht erkennen.
Vielleicht sind wir traurig oder
aggressiv, fühlen uns ständig benachteiligt oder voller Schuldgefühle und
wissen nicht warum. Wenn wir unsere Gefühlszustände nicht
verstehen, können wir uns wie gelähmt fühlen, da wir nicht wissen, welche Art
von Handlungen diese Gefühle ausgelöst haben oder welche Art von Handlungen
uns von diesen belastenden Gefühlen befreien könnten, oder wir sind ständig
auf der Flucht vor unserem Inneren durch Ablenkungen aller Art; so werden wir
hektisch und unruhig und können nicht zu uns selbst finden. Dadurch
werden wir schwierig und lästig für unsere Mitmenschen; aber geraten auch in
Minderwertigkeitsgefühle und in tiefe Unzufriedenheit, die sich in einer
gefährliche Lebensgier aller Art auswirken kann.
Besonders problematisch ist diese Art
seelischer Verbundenheit mit den Vorfahren, weil sie dazu führt, dass
Menschen ihrem Inneren nicht vertrauen können, dass sie ihre Gefühlswelt nur
als belastend und verwirrend empfinden und nicht lernen, von dort her die
Signale für ihre moralischen Entscheidungen zu empfangen, durch die sie
eigenverantwortlich und mündig ihr Leben gestalten könnten.
Deshalb neigen auch manche dieser
Menschen zu Autoritätshörigkeit und befürworten autoritäre Ordnungssysteme in
Religion, Politik und in allen Bereichen der Gesellschaft. Sie vertrauen auf
Fremdsteuerung und glauben nicht an emotionale Mündigkeit.
17. Immer wenn Gefühle so mächtig werden, dass sie
gegenüber der Gegenwartssituation unangemessen heftig erscheinen, sollte man
die eigene Kindheit bedenken und auch unsere Verbundenheit mit den Vorfahren
sich bewusst machen, um die Herkunft dieser mächtigen Gefühle zu verstehen
und diese durch heilende Riten auflösen. (Ausführlicher >>>
)
Da solche Gefühle nicht sinnlos sind, sondern Hinweise darauf, dass etwas in
unserer eigenen Kindheit der Heilung bedarf oder dass einer der Vorfahren in
seinem Schicksal noch nicht angemessen gewürdigt und geachtet ist, sind
solche emotionalen Probleme Signale für seelische Hausaufgaben, die zu
erledigen sind, um zum Frieden mit der eigenen Vergangenheit und zum Frieden
mit den Vorfahren zu finden.
Zusammenfassung
18. Bei religiösen Fanatikern und Extremisten,
und bei Menschen, die starr an überkommenen Glaubens- und Moralvorstellungen
festhalten - egal in welcher Religion – ist meist mit einem der folgenden
psychologischen Hintergründe zu rechnen (Kein Anspruch auf Vollständigkeit!):
(1)
Emotionale
Überforderung durch Schicksalsschläge und besondere Belastungen in der
Kindheit können zu einer bleibenden Angst vor Gefühlen führen. Die
Verdrängung der Gefühle führt zum Verlust der inneren Orientierung.
(2)
Haben ihre
Eltern solches erlebt, können deren Kinder die Tabuisierung von
Gefühlsäußerungen übernehmen und deshalb ebenso wie die Eltern ihre Gefühle
verdrängen.
(3)
Zu wenig
Zuwendung in der Kindheit kann später zu unangemessenen Gefühlsausbrüchen
führen.
(4)
Seelische und
körperliche Verletzungen in der Kindheit durch Bezugspersonen können später
zu unangemessenen Gefühlsreaktionen führen.
(5)
Extreme
Helfer-Rollen eines Kindes für eine leidende Bezugsperson (meist ein
Elternteil oder Großelternteil) können zu Besetzungen durch fremde Gefühle
führen und die eigene Gefühlswelt blockieren.
(6)
Die Verdrängung
starker Gefühle durch die Eltern kann dazu führen, dass diese Gefühle in der
Seele eines Kindes landen und dort zu einer emotionalen Besetzung führen.
(7)
Wenn Eltern ein
Großelternteil oder einen anderen Verwandten abwerten, kann ein Kind sich
unbewusst mit jenem verbunden fühlen und wird dadurch emotional besetzt und findet
nicht zu einem ausgeglichenen Gefühlsleben.
(8)
Wachsen Kinder
in einer Familie oder in einem Kulturkreis auf, in denen sie aufgrund der
dort üblichen Autoritätsverhältnisse von klein an extremen
Gehorsamsforderungen ausgesetzt waren, haben sie keine Chance, die ganze
Bandbreite der eigenen Gefühle wahrzunehmen und wichtige Gefühle zum Ausdruck
zu bringen.
Solche
Menschen können nicht lernen, „von
innen her bewegt und geführt“ zu handeln. Manche führen ein haltloses und
rücksichtsloses Leben, andere suchen nach einer „Außensteuerung“, z.B. an
Hand von sogenannten „Heiligen Schriften“, und versuchen durch deren
wortwörtliche Umsetzung ein wahres und gottgefälliges Leben zu führen.
19. Die
Glaubensgemeinschaft als Korrektur für unausgewogene Gewissensentscheidungen:
Kein Mensch kann bei sich und anderen einschätzen, wie frei er von inneren
Zwängen und Belastungen ist und deshalb eine ausgewogene
Gewissensentscheidung zu treffen in der Lage ist. Deshalb ist der Dialog mit
Menschen, die auch werte-orientiert und „von innen geführt“ zu leben
versuchen, notwendig.
Dafür wichtig ist die Bereitschaft, sich mitzuteilen, faire Kritik zu üben
und faire Kritik anzunehmen, Meinungsverschiedenheiten auszuhalten und sich
in Frage stellen zu lassen.
Dies erfordert eine Atmosphäre des Vertrauens und der gegenseitigen
grundsätzlichen Wertschätzung und Achtung voreinander – auch dann, wenn man
die Sichtweise des anderen (noch) nicht verstehen kann.
„Kirche“ sollte eigentlich aus solchen Gemeinschaften
des Vertrauens, der Wertschätzung und eines lebendigen Dialogs bestehen, also
aus Menschen, die werte-orientiert und „von innen geführt“ zu leben sich
bemühen.
Dass dies in vielen Bereichen und auf vielen Ebenen der Kirche nicht der Fall
ist, zeigt, wie reformbedürftig und wenig dem Geist Jesu entsprechend die
Kirche in unserer Zeit ist.
20. Die
Alternative zu moralisierendem Reden: „Richtet nicht!“ (Mt
7,1)
Wesentliche Aspekte für die christliche Vorstellung vom Menschen und
für moralische Kriterien sind aus dem Wort Jesu „Richtet nicht!“ (Mt 7,1) abzuleiten.
Denn dies bedeutet vor allem den Verzicht darauf, negative moralische
Bewertungsbegriffe wie Egoismus, Bosheit usw. auf Menschen anzuwenden.
Wie schwer sich auch päpstliche Glaubensdokumente damit tun, zeigt die
Tatsache dass eine Sozialenzyklika wie „Sollicitudo
rei socialis“ von 1987
siebenmal den Begriff „Egoismus“ bzw. „egoistisch“ verwendet, ohne deutlich
zu machen, welcher psychodynamische Prozess egoistische Verhaltensweisen
hervorbringt.
Denn statt moralisierender Verkündigung wären psychodynamische Hintergründe
von verletzenden Verhaltensweisen zu analysieren und zusätzlich mögliche
Heilungsangebote bekannt zu machen und auch schützende Reaktionsweisen für
die Leidtragenden dieser verletzenden Verhaltensweisen zu erarbeiten – z.B.
Methoden fairer Kritik >>>
.
Für viele Verhaltensweisen, die das Zusammenleben der Menschen und den Umgang
mit der Schöpfung belasten (Ungerechtigkeiten,
beleidigendes, bevormundendes oder rücksichtsloses Verhalten und
Grenzüberschreitungen aller Art) gibt es vor allem fünf mögliche Ursachen:
-
Verdrängung von seelischen und körperlichen
Verletzungserfahrungen in der Kindheit, die später in Form von Projektionen
ausgedrückt werden.
-
Erfahrung von zu wenig Nähe und anderen
Defizit-Erfahrungen in der Kindheit, die später in Form von Projektionen und
unangemessenen Erwartungshaltungen umgesetzt werden.
-
Verlust von Kindheit und Jugendzeit durch unangemessene
Helfer-Rollen für ein Elternteil oder einen anderen Vorfahr, was später zu
Rückfalltendenzen in kindliche und jugendliche Lebensphasen und damit zu
verantwortungslosem Verhalten führen kann.
-
Defizit-Erfahrungen in der Kindheit in Bezug
auf seelische Grundbedürfnisse (wahrgenommen-werden,
bedingungsloses geliebt-sein, körperliche Nähe, … ) können
zu grenzenlosen Ersatzbedürfnissen und unstillbarer Gier auf körperlicher und
materieller Ebene führen. Das ist beste Nahrung für das Wachsen des Kapitalismus.
-
Die unbewusste Solidarität mit einem
schwierigen Vorfahr kann zur Übernahme von dessen unausgewogenen
Gefühlsenergien führen, die dann an den Mitmenschen abreagiert werden.
Die Beschreibung der belastenden Verhaltensweisen, die durch derartige psychische
Konstellationen verursacht sind, mit negativen moralischen Begriffen wie
Egoismus, Bosheit, usw. stellen eine Art oberflächlicher
Symptombeschreibungen dar, die die eigentlichen Ursachen der Probleme
verdecken statt sie verständlich zu machen. Deshalb helfen sie nicht, die auf
diese Weise sich verhaltenden Menschen besser zu verstehen bzw. dass diese
sich selbst besser verstehen und sich ändern könnten.
Man kann den biblischen Schriftstellern keinen Vorwurf machen, wenn sie wie
im Jakobusbrief vom „Kampf der Leidenschaften“ als Ursache für Krieg und
Aggressionen sprechen (Jak 4,1f) oder den Zorn verteufeln wie Paulus, denn
sie hatten nicht das psychologische Wissen unserer Zeit. Aber man kann den
Verantwortlichen der Kirche heute den Vorwurf machen, dass sie die
Erkenntnisse der Humanwissenschaften unserer Zeit nicht zur Kenntnis nehmen,
obwohl diese helfen würden, die Botschaft Jesu besser zu verwirklichen.
Schlusswort
Dass Menschen also „von innen
her bewegt und geführt“ handeln, wozu die Botschaft Jesu einlädt und wie es
das Zweite Vatikanische Konzil 1965 für die Kirche und damit für die Christen
klar formuliert hat, erfordert einen Prozess der geistig-seelischen
Mündigwerdung.
Diesen Prozess sollte die
Kirche nicht nur ermöglichen, sondern anstoßen und begleiten, damit die
Christen im Bewusstsein ihrer Würde als „Kinder Gottes“ liebevolle und
verantwortungsvolle Verwalter der Schöpfung Gottes werden und ihr eigenes
Leben zur Entfaltung bringen.
Dazu ist es notwendig, dass die Menschen nicht nur ihre Verstandeskräfte für
tragbare Gewissensentscheidungen einsetzen, sondern auch mit ihren
Gefühlsimpulsen aufmerksam und verantwortungsvoll umgehen lernen.
Dazu sind aber die möglichen vielfältige
Gefühlsblockaden zu erkennen und abzubauen. Dafür ist nicht nur eine
gesunde Spiritualität, sondern auch manches Wissen über psychische Prozesse
und deren Heilungsmöglichkeiten notwendig.
Der zweite Teil der benediktinischen
Lebensregel „Bet´
und arbeit!“ bezieht sich in unserer Zeit nicht
nur auf Handarbeit oder geistige Arbeit, sondern nach heutiger Erkenntnis
psychischer Vorgänge auch auf seelische
Arbeit, die viele in der Kirche erst lernen müssen.
Ähnlich wie in der Entwicklungshilfe für wirtschaftlich unterentwickelte
Länder, wo Gebet und Spiritualität allein nicht die Probleme lösen, sondern
häufig landwirtschaftliches, betriebswirtschaftliches und
wirtschaftspolitisches Wissen erforderlich sind, so ist es auch für viele
psychische Probleme notwendig, ein gewisses analytisches Wissen und
Handwerkzeug sich anzueignen, um auf dem Weg einer verantwortungsvollen
Mündigwerdung voranzuschreiten. >>>
Wie bei manchen
handwerklichen oder körperlichen Problemen es manchmal notwendig ist, einen
Fachmann zu Rate zu ziehen, wird dies auch bei Problemen mit
Gewissensentscheidungen notwendig sein. Aber die Inanspruchnahme von
Fachleuten darf nicht zur Selbstentmündigung führen, sondern dem Prinzip
„Hilfe zur Selbsthilfe“ folgen.
Ansonsten wird entscheidend sein, ob „Seelsorger“ Fachleute im Grenzbereich
von Spiritualität und psychischen Prozessen sind und ob Pfarrgemeinden durch
entsprechende Bildungsarbeit ein hohes Maß an Kompetenz für gesunde
Gewissensbildung für die Gemeindemitglieder anbieten können.
Manfred
Hanglberger (www.hanglberger-manfed.de)
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