Lorenz Zellner

 

 

„Zölibat“

Problematik und Risiko der zölibatären Lebensform

(S. 151-170 im Buch „Ich bin auf den Grund gegangen – aber nicht zugrunde“)

 

Inhalt

 

 

Einführung                                                                                                                 2

„Seid stets bereit, jedem Rede und Antwort zu stehen“ (1 Petr 3,15)                       3

Rede und Antwort in Bezug auf das personale Angebot der Kirche                         4

Welche Kompetenz ist von kirchlichen Amtsträgern zu fordern?                             5

Rede und Antwort einer tragenden Theologie                                                           7

„Die Eva, die brauchen wir nicht!“                                                                            9

Die Versuchung, „sein zu wollen wie Gott“                                                            10

 

Kompetente und wohlwollende Außenansichten, die zu denken geben                  11

Innenansichten – Selbstreflexion des Klerus                                                           14

 

Anmerkungen                                                                                                           16

 

 

Zu weiteren Artikeln aus demselben Buch >>>

 

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Zölibatsverpflichtung:
„Geschenk Gottes“ oder/und Machtinstrument der Kirche? >>>

Ein weiterer Artikel zum Thema: von Manfred Hanglberger

 

 

 

 

 

 

Einführung

 

In einem weiteren Beispiel aus dem Genre „Gefährliche Ideen“ geht es um die Ehelosigkeit des katholischen Priesters, zu der in der römisch-katholischen Kirche jede am Priestertum interessierte bzw. dem priesterlichen Dienst zugeneigte männliche Person über eine Disziplinarverfügung verpflichtet wird. ... Ich mache für mich kein Hehl daraus: Ich sehe diese Idee, die Verpflichtung dazu und die daraus sich ergebende Lebensweise als seelsorgerisch vielfach kontraproduktiv, zumindest aber sehr einschränkend, theologisch problematisch, weil dünn begründet, und für den persönlichen Lebensweg so mancher von diesem Weg Betroffener äußerst riskant und gefährlich an. Diese meine Einschätzung will ich im Folgenden pastoral, theologisch und humanwissenschaftlich begründen.

 

Noch einmal: Worum geht es hier genau? Es geht um eine Idee, die zu einer Lebensform geworden ist. Es geht um die innere Zustimmung zu und die äußere Übernahme einer Lebensführung in vollkommener und ständiger Enthaltsamkeit. Es geht um die Verpflichtung zu einer Lebensform, an die meine Kirche jeden Priester bindet. Es geht aber auch um eine Lebensform, die von Menschen individuell gewählt und sich selbst auferlegt und zu der heute niemand von außen gezwungen wird. Begründet wird diese Maßnahme damit, der Priester solle mit ungeteiltem Herzen Christus nachfolgen, ein Zeichen des Glaubens für die Welt sein und sich freier und unabhängiger dem Dienst an Gott und den Menschen widmen können.

 

Es geht hier also keinesfalls um das schicksalhafte Single-Dasein, das heute viele Menschen trifft, auch nicht um ein Single-Leben, das viele oft auch recht billig in Kauf nehmen und jede Mühe scheuen, ihr Beziehungspotential zu verwirklichen. Es geht auch nicht um die, die ihre Unabhängigkeit wahren wollen oder irdische Enttäuschungen nicht wegstecken konnten. Allein zu bleiben, wenn man einmal merkte, wie schlecht die Welt ist, kostet keine Mühe. Es geht auch nicht um die, die irgendwo verstrickt in das Schicksal von Vorfahren oder in menschliche Enttäuschungen keinen Zugang in eine tragende Partnerschaft finden konnten.

Es geht hier auch nicht um die Frage, die immer öfter aufscheint, ob etwa auferlegte Ehelosigkeit gegen die menschliche Würde verstößt, ob sie sittenwidrig ist, weil sie so zentral in das Leben eines Menschen eingreift. Der Vergleich mit sittenwidrigen Arbeitsverträgen mit den Schwangerschaftsklauseln wird immer wieder in den Raum gestellt bzw. nicht von der Hand zu weisende Erfahrungen werden bemüht, dass zölibatäres Leben manchmal zu einem würdelosen Leben verkommen kann. Ich lasse diese Fragestellung liegen. Ich will tiefer schürfen.

 

Eines ist mir im Voraus noch sehr wichtig: Was dieser mein Beitrag sicher nicht will und auch nicht vorhat, ist, jemanden abwerten, der diesen Weg gewählt hat. Ich habe viele Freunde, die zölibatär leben und Hervorragendes leisten – bis hin zur Selbstaufopferung. Ich achte sie, ebenso wie meine wirklich guten Freunde auch mich achten. Was ich ebenfalls nicht will, ist, weder mich selbst noch mein individuelles Leben in ein Schaufenster und damit zur Schau stellen. Ich gebe nur schwer etwas preis, was mir ganz persönlich gehört. Eigentlich möchte ich, was ich am Schluss dieses Kapitels als persönliche Erfahrung zusammengefasst habe, nur denen erzählen, die fähig und willens sind, sich einer ganz persönlichen Geschichte zu öffnen und diese nicht vorschnell in den Topf der Abwertung oder des Besserwissens werfen. Dafür bin ich mir zu schade. Und ein drittes will ich auch nicht: Diese Zeilen sind keine Abrechnung mit einer Kirche, zu der ich mich weiterhin zähle (und der ich nicht nur meine Kirchensteuer zahle), der ich mich in vielfacher Hinsicht verbunden fühle und deren zentrale Intentionen ich auch ohne Amt umzusetzen versuche. Ich beschreibe im Folgenden einfach das vorläufige Ergebnis eines Weges, meines persönlichen Denk- und Lebensweges, stehe Rede und Antwort und gebe Rechenschaft darüber, zu welchem Denken und zu welcher Lebensart ich mich durchgerungen habe, wohin meine Entwicklung im Laufe meines Lebens ging und wie ich heute dastehe. In verschiedenen Schritten versuche ich im Folgenden zu zeigen, wie gute Theologie, verantwortungsbewusste Humanwissenschaften, konkretes Leben der Priester und persönliche Betroffenheit Teile der heutigen Pastoral, insbesondere der Konzentration auf das personale Angebot zölibatärer Amtsträger in Frage stellen. Ich stehe persönlich Rede und Antwort – und hoffe, ein wenig Gehör zu finden.

 

Zentral werde ich also zwei Lebensformen, zwei Seinsfiguren, zwei Sinnsphären vergleichen: die Paarbeziehung, zu der jeder Mensch, auch der Priester eingeladen und befähigt ist, und die zölibatäre Präferenz, die heute das Priestertum wesentlich bestimmt. Ich werde beide Lebensformen auf ihre Stichhaltigkeit, auf ihr Für und Wider abklopfen.

 

Eingebettet ist der ganze Beitrag in die Sorge um die Pastoral der Kirche in einer christoformen Art. Hier muss die heutige Pastoral Rede und Antwort stehen. Kann man im Blick auf mein Thema, in Bezug auf das Sachangebot, wozu auch Ideen gehören, und genauso im Blick auf das erheblich verkürzte personale Angebot noch von wirklich froher Botschaft sprechen?

 

„Seid stets bereit, jedem Rede und Antwort zu stehen“ (1 Petr 3,15)

 

Stellung zu nehmen, Rede und Antwort zu stehen, Rechenschaft abzulegen, dazu fordern uns unzählige Lebenswirklichkeiten heraus. Rede und Antwort zu stehen über Inhalte und Art der Vermittlung ihrer Botschaft, das ist die Pastoral der Kirche ihrem Gründer und der jeweiligen Zeit schuldig. Mit einem souveränen Selbstbewusstsein und einer herausfordernden Selbstsicherheit nimmt die Kirche, der ich angehöre, für sich in Anspruch, dass sie der Welt und den Menschen etwas zu sagen hat, etwas Wichtiges, etwas Kerniges, etwas Frohes, etwas Vernünftiges, etwas zum Handeln Motivierendes. Sie beansprucht, Salz der Erde, Licht der Welt, bergende Stadt zu sein. Da stellt sich die Frage: Was macht diese Kirche so sicher, wo doch zur Zeit so viel Sicherheit abbröckelt, wo sich manches früher so sicher Geglaubte als gar nicht so sicher herausstellt, wo das Profil so unscharf geworden ist? Die Antwort lautet weiterhin souverän: Hier bei uns, in der Kirche wird ein großes Erbe verwaltet, das jesuanische Erbe!

 

Wer sich nun soweit aus dem Fenster lehnt, muss Rede und Antwort stehen. Das ist zur Zeit nicht einfach. Denn die Pastoral der Kirche steht wirklich vor großen Fragen. Die Frage der Fragen lautet: Wie versteht sich das jesuanische Erbe und wie lebt und verwaltet und gestaltet man es in unserer Zeit? Die nächsten Fragen schließen sich sofort an: Was ist der Kern dieses Erbes? Wie unterscheidet man den Kern vom Rand, damit das Kernige seine Kraft entfalten und Frucht bringen kann? Und weiter: Was wird innerhalb des Gesamterbes der Definition „Frohe Botschaft“, „Gute Nachricht“, „Heilsbotschaft“ gerecht? Was vom Gesamt-Corpus, das „Evangelium“ heißt, erweist sich als wirklich frohe Botschaft? Und noch eins draufgelegt: Was von diesem Erbe ist der Vernunft, was ist denkenden Menschen zuzumuten? Wo sind von der Vernunft geprägte Menschen mit im Boot? Wo wenden sie sich ab? Und: Was aus diesem Erbe motiviert zum ethischen Handeln? Was nimmt Menschen mit? Was lässt sie kalt? - Die Pastoral ist so in einem bisher nicht gehörten Ausmaß gefragt: Wo ist das Kernige, wo ist das Frohe, wo ist die Logik, wo sind die ethischen Impulse und guten Früchte ihres Redens und Handelns?

 

Der inhaltliche Fragenkomplex wird dann noch um einen organisatorischen erweitert, der aber eng mit den Inhalten verbunden ist. Auf ihn grenze ich mich in diesem Beitrag ein: Mit welchem personalen Angebot, so lautet die Frage, gewährleistet die heutige Pastoral den Fortbestand der Seelsorge in einer umfassenden, qualifizierten und tief katholischen Form, mit welchem Personal bringt sie das Kernige, Frohe, Logische und Ethische in die Welt und unter die Menschen? Etwas vorlaut könnte man hier schon antworten: Mit kernigen, frohen, klugen, aktiven und kreativen Mitarbeitern, die „hingehen und Frucht bringen“ (Joh 15,16)! Doch darüber später!

 

Man kann als aufmerksamer Beobachter der Szene in Bezug auf meine Fragestellung nun nicht bestreiten: Viele für die Pastoral Verantwortliche hinken nach, sind um Antworten verlegen, gehen Herausforderungen aus dem Weg, schieben die Fragen vor sich her oder Gott in die Schuhe. Dabei könnten sie so viele Kirchenmitglieder wahrnehmen, denen die Frage auf den Nägeln brennt, wie sich die Kirche im 21. Jahrhundert aufstellen muss, damit das Licht, das mit Christus in die Welt kam, leuchten kann und nicht durch menschliche Versäumnisse und Ängste verdunkelt wird. Und noch etwas sollten die Verantwortungsträger aufmerksam zur Kenntnis nehmen, dass es nämlich im säkularen Bereich genügend wissenschaftliche Experten gibt, die sich um die Menschheit Sorgen machen und die bereit sind, mit der Kirche und ihren Werten zu koalieren. Wenn ich manche Gegebenheiten unserer Zeit richtig deute und die Stimmen der Zeit richtig höre und interpretiere, dann plädieren immer mehr von einem gesunden Humanismus geprägte Denker und Deuter der Zeit dafür, dass das Rettungsboot der Religion unbedingt erhalten bleiben soll. Als Begründung kann man die sorgenvolle Frage hören: Wer soll denn sonst das Hoffnungsvakuum der Menschen ausfüllen? Ich nenne stellvertretend für viele den Philosophen Jürgen Habermas (1) und den Psychoanalytiker Tilmann Moser (2), empfehle ihre einschlägigen Werke und verweise besonders auf einen Beitrag in diesem Buch, auf  „Werkspionage“, der aufzeigt, was man bei Therapeutinnen und Therapeuten Überraschendes wahrnehmen kann. In der Aufnahme des Gespräches könnte die Pastoral dann auch klar stellen, dass sie nicht vorrangig eine „Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger“ ist, eine Einrichtung, die zu spät dran ist und im Nachhinein auftaucht, sondern dass sie vorausschauend ihren aus dem Glauben kommenden Gestaltungsauftrag für die irdischen Gegebenheiten und die geistige, geistliche und soziale Landschaft der Menschen wahrnimmt und gewillt ist, ständig daran zu arbeiten. Die Pastoral soll ja primär durch die Wasser des Lebens führen und von vorne herein vermeiden helfen, dass Menschen ins Wasser fallen.

 

Rede und Antwort in Bezug auf das personale Angebot der Kirche

 

Ich grenze, wie bereits gesagt, meine Fragen an die Pastoral auf den oben erwähnten Fragenkomplex ein, den ich so beschrieben habe: Mit welchem Personal bringt die Pastoral das Kernige, Frohe, Logische, den ethischen Imperativ und das ethische Tun des jesuanischen Erbes zu den Menschen und unter die Menschen? Bevor ich diese Frage auf die Amtsträger eingrenze, hole ich ein oft übersehenes christliches Allgemeingut hervor, das das 2. Vatikanische Konzil erneut eindringlichst eingeschärft hat: Das Konzil legt die Weitergabe des jesuanischen Erbes in die Hände aller Christen und vertraut die Weitergabe nicht nur den Amtsträgern an. Jeder Christ ist zuständig. Die Pastoral braucht alle, wo immer sie auch in der Welt stehen mögen. „Christus hat keine Hände, nur unsere Hände“ deutet dies kurz, aber bündig an. Das heutige Seelsorge-Instrumentarium braucht den Christen des Alltags, den normalen Menschen, der nicht nur in Gott, sondern auch in der Welt steht, menschennah und beispielhaft. Amtsträger reichen längst nicht mehr aus, damit die Kirche Licht der Welt sein kann – und schon gar nicht kann es gut gehen, wenn Amtsträger stolpern oder wenn ihnen die Luft ausgeht.

 

Nach diesen Vorbemerkungen und Einlassungen bin ich bei der Frage angekommen, die ich im Weiteren verhandle, bei der Frage nach der Gestalt des Amtsträgers. Bisher hat man in der römischen Kirche auf den zölibatär lebenden Priester gesetzt. Doch dieses „Geschäftsmodell“ scheint zu Ende zu gehen. Vielfache Ursachen haben dazu geführt. Manche Erfahrung deutet dies längst an. Allmählich nimmt die Pastoral die Situation wahr und verliert ihre Naivität, die bisher immer monoton verlauten ließ: „Gott schenkt seiner Kirche zu jeder Zeit die Priester, die nötig sind“. Die pastorale Situation hat diese mystifizierende Sicht längst ihrer lange und hartnäckigst vorgetragenen „Wahrheit“ beraubt, denn die Versorgung der Gemeinden und der Lebensfelder der Menschen ist einfach nicht mehr wie erforderlich gewährleistet. Auch der Boden, der die Pastoral trägt, die Theologie zieht mit der bisherigen Form der Argumentation nicht mehr mit. Die Humanwissenschaften schütteln vielfach den Kopf, ebenso die Fachleute, die mit Menschenführung zu tun haben. Und viele aktive Priester glauben nicht mehr an sich und die Wahrheit ihres Weges. Gar mancher möchte diesen Weg interessierten jungen Menschen ersparen und hat die Werbung eingestellt.

 

Die Organisation der Seelsorge ist absolut erweiterungsbedürftig. Die Pastoral braucht die Öffnung der kirchlichen Ämter auch für nicht zölibatär lebende Menschen. Dies würde nicht nur die Zahl der Amtsträger erhöhen, sondern könnte auch einen Schub in Richtung Qualität der Seelsorge bedeuten. Ich werde dies später begründen. Eine gesunde Pragmatik ist jetzt am Zuge. Die Situation ist so ernst, dass man einer spitzen Äußerung von Probst Gerhard Nachtwei nur zustimmen kann. Er brachte die Realität so unmissverständlich auf den Punkt, als er feststellte: „Wenn ein Mensch eine notwendige Operation braucht, dürfen sich die Ärzte nicht lange darüber streiten, ob weiße oder grüne OP-Kleidung günstiger sei“ (3). Wohlgemerkt: Hinter der weißen oder grünen Kleidung muss natürlich auch ein kompetenter Arzt stehen! Kompetenz gilt ebenso für die, die Menschen durch die Wasser des Lebens führen sollen.

 

Welche Kompetenz ist von kirchlichen Amtsträgern zu fordern?

 

Kirchliche Amtsträger sollen eine Art Kompetenzzentrum für die Weitergabe des jesuanischen Erbes sein. Ich versuche, einige Eckpunkte für pastorale Kompetenz darzustellen. Wenn Kirche Kirche für den Menschen sein will, dann stellt sich für mich die Situation und Stellung der Amtsträger im Wesentlichen so dar:

Amtsträger stehen voll und ganz in einer Welt, die sie klar, eindeutig und ohne Abstriche als Welt Gottes definieren und die sie auch als solche erleben, verwalten und gestalten müssen. Sie sehen die Welt nicht als minderwertig und als von Gott getrennt an. Sie fühlen sich nicht herausgenommen aus der Welt, sie wollen sich auch nicht vor dieser Welt bewahren. Sie stehen aber auch voll und ganz in einem Gott, den sie als Welt- und Mensch-gewordenen menschenfreundlichen Gott definieren. Sie sehen Gott nicht abgehoben und getrennt von der Welt, sie erleben ihn in Welt und Menschen und dürfen ihn in sich selber gegenwärtig wissen und für andere vergegenwärtigen. Sie stehen für einen geistig-religiösen und für einen für ihre Umwelt beispielhaften Lebensstil. Sie können nicht von Gott reden und die Welt auslassen, ebenso wenig wie sie von der Welt reden und Gott auslassen können.

 

Wenn Kirche Kirche für den Menschen sein will, heißt das weiterhin: Amtsträger sind ganze Menschen. Sie sind gute Theologen und kompetent in den weltlichen Dingen. Vor allem verstehen sie, was Inkarnation heißt. Und das bedeutet zunächst, in das eigene Menschsein einzusteigen. Sie steigen ein in etwas, was sie nicht selbst erfunden haben, sondern was sie als Erfindung Gottes vorfinden. Sie wissen um ihre Existenzbedingungen, um ihre Existentialien, um das, was ihre Existenz begründet und trägt, um das, wovon man sich nicht ohne Risiko und Selbstgefährdung abschneiden kann. Sie eignen sich ihr Dasein in den wichtigsten Aspekten voll und ganz an, auch ihr Mann-Sein, ihre Vernunftbegabung usw. Sie wissen um die Fülle der Schöpfung und die zentralen Formate, worauf jeder Mensch ausgelegt ist. Sie haben erkannt, was sie bestimmt und weichen dem Bestimmenden nicht aus. Wer voll und ganz in seinem Leben steckt, den kann man dann auch in das Leben anderer schicken, um dort die Inkarnation fortzusetzen. Sie helfen vor allem, dass Menschen ihre Existenz und ihre Bestimmung annehmen, und sie explizieren in Wort und Tat ein Wort aus dem Johannesevangelium, dass Menschen „das Leben haben und es in Fülle haben“ (Joh 10,10).

 

Wenn Kirche Kirche für den Menschen sein will, braucht es auch einen neuen Stil, die Botschaft und Lebensart Jesu weiterzugeben. Es wird immer wichtiger, dass die Amtsträger die Botschaft osmotisch, im Austausch, in der Begegnung weitertragen. So forderte Papst Franziskus die Gottes- und Menschendiener gleich zu Beginn seines Pontifikates dezidiert auf, zu den Armen zu gehen, in die Randgebiete, wo Leiden und Blutvergießen herrschen, zu den Gefangenen, zu den Blinden usw. Ich traue es dem neuen Papst zu, dass er in einem nächsten Schritt deutlich macht: Selber arm sein und bescheiden leben, das sollt ihr tun, das kommt am besten an. Denn das eigene Beispiel ist zentraler Teil der Verkündigung.

 

Diese Einstellung des Papstes könnte Schule machen, wenn es seine Mitarbeiter einlösen, zu den Menschen zu gehen, an die Punkte, wo es wirklich brennt, um dort durch das eigene Beispiel zu überzeugen. Mir begegnen allerdings Not und Elend nun nicht nur in meinem fast vierzigjährigen Engagement für die Arbeit meines Freundes Padre Orellana und für die Förderung seiner pastoralen und sozialen Projekte für die Armen und Bedürftigen in Chile, ich stoße Tag für Tag hier bei uns auf ungeheuere und oft ausweglos erscheinende Nöte in vielen Ehen und Familien. Dort müssten unsere Priester ebenfalls hin – und zwar am Besten als Gleiche unter Gleichen, als Verheiratete unter Verheirateten. Ehe und Familie, diese wichtigsten sozialen Formate, dieser zentralen Ort der Lebensgestaltung und Lebensweitergabe brauchen neue Zuflüsse, am besten natürlich auch über eine kirchliche Elite, über Amtsträger, die nicht in zölibatären Kleidern stecken. Selber sein Dasein auch in seiner Geschlechtlichkeit voll angenommen zu haben und in einer festen Beziehung mit allem Schönen und Schweren zu leben, kommt auf diesem Feld sicher am besten an. Welches Angebot an Familien und Paare wäre es, wenn auch Priester den „Ernstfall der Nächstenliebe“ (4), wie der Moraltheologe Dietmar Mieth die Ehe bezeichnete, voll und ganz leben würden und über ihr Mühen, Ringen und Lieben andere anstecken könnten, oder wenn es Priestern möglich wäre, wie christliche Gatten „die in Jesus Christus leibhaft gewordene Liebe Gottes in die alltägliche Nähe des ehelichen Nächsten zu bringen“ (5), um eine schöne Formulierung des Pastoraltheologen Dieter Emeis zu gebrauchen. Oder wenn Papst Franziskus die biblische Anweisung in Tim 3.5 in unsere Zeit übersetzen würde: „Wer seinem eigenen Hauswesen nicht vorstehen kann, wie soll der für die Kirche Gottes sorgen?“ Es käme sicher gut an, wenn die priesterliche Elite sich der Verkündigung durch ihr Beispiel nicht länger verweigern würde, bzw. wenn sie sich von dieser Art der Verkündigung nicht ausschließen würde oder von oben ausgeschlossen wird! Und was ich bisher noch zurückgehalten habe: Wenn das Heilschaffende des Ehesakramentes über eine priesterliche Elite deutlich ins Bewusstsein käme und nicht weiter in einem Dornröschenschlaf dahinvegetieren würde!

 

Reden genügt heute nicht mehr für eine mitnehmende Seelsorge. Und Beharrung bzw. alles beim Alten zu lassen ist Tod. Ganze Felder nicht mehr bearbeiten, abgehobenes Personal einsetzen, über die böse Welt schimpfen, das geht nicht mehr. Die Akzeptanz einer bestimmten Art von Seelsorge ist eingebrochen. Begegnung - am besten von gleich zu gleich - kommt im Allgemeinen gut an. Die Verkündigung ist personell dringendst erweiterungsbedürftig, die Pastoral ist erweiterungsverpflichtet. Mehrfarbigkeit ist heute unbedingt notwendig, Beispielhaftigkeit ebenfalls - besonders im Blick auf eine gelebte Hauskirche in Ehen und Familien. Was ein „geht hin“ (Mt 28,19) – ob in die ferne oder in die nahe Welt, ob zu den Armen oder in die Familien – für die Ausbildung und Fortbildung der Priester bedeutet, bedarf sicher vieler neuer Überlegungen. Es ist aber höchste Zeit für die Erweiterung des personalen Angebotes.

 

 

Rede und Antwort einer tragenden Theologie

 

Die Einengung des priesterlichen Dienstes auf zölibatär lebende Männer und das ehelose Leben generell sind eine Anfrage an die Theologie. Ich bin Theologe und habe gelernt, mich mit Grundfragen des Lebens und theologischen und säkularen Lebensdeutungen zu beschäftigen und dazu Stellung zu nehmen. Ich weiß, dass es eine Theologie gibt, die mit Problembewusstsein und Betroffenheit geladen ist und die im Blick auf die Zölibatsdebatte theologisch und logisch Rede und Antwort stehen kann, eine Antwort, die theologisch und logisch besticht, die verantwortbar und vorzeigefähig ist, eine Antwort, die sich nicht versteckt, die nicht drumherum redet, die sich gegen das Aussitzen alter Positionen stellt. Es handelt sich um eine Theologie, die sowohl der Sache auf den Grund geht, als auch die Wirklichkeit der Zeit aufgreift und, weil sie beides im Blick hat, argumentieren kann, mit welchen Positionen und Praktiken Glaube und Kirche nicht mehr zu „organisieren“ sind.

 

Die Zeit ist reif, die Situation ist günstig, beste Gründe liegen vor, die Idee des Pflichtzölibates unter theologischen Gesichtspunkten zu untersuchen und zu bewerten. Ich will diese Bewertung niemandem aufdrängen, lade aber dazu ein, meinen Gedanken zu folgen und diese auf sich wirken zu lassen. Ich glaube, dass sie nachvollziehbar und akzeptabel sind. Wenn man in Bezug auf die Zölibatsdebatte Rede und Antwort stehen will, wenn man die Debatte seriös gestalten will, muss man sich natürlich klar vor Augen halten, worum es hier im Kern geht. Diese Frage wird vielfach übersehen. Man ist sich vielfach nicht klar, dass Folgendes der Fall ist: Es geht bei der freiwillig gewählten Ehelosigkeit bzw. beim Pflichtzölibat um die „Kappung“ einer wesentlichen und zentralen Seinsfigur der Schöpfung, um die „Kappung“ einer Sinnsphäre. Unter Theologen, die die Bibel als Argumentationsquelle benutzen, sollte es unbestritten sein, dass wir in Gen 2,18 eine von Gott begründete natürliche Seinsfigur vorfinden. In dieser wird die Zuordnung, das Miteinander von Mann und Frau als geltende Sinnsphäre gesetzt. Diese Sinnsphäre wird später von Menschen, die alles besser wissen und besser machen wollen als der Schöpfer, in der zölibatären Lebensform „gekappt“ bzw. für eine bestimmte Menschengruppe aus der Agenda gestrichen. Ein solcher künstlicher Zustand ist äußerst fragwürdig. Es gibt gute Gründe, dagegen anzugehen. Meine Bewertung zwinge ich niemandem auf, lade aber dazu ein, sie ernsthaft zu bedenken. Ich argumentiere dabei weitgehend mit dem Vokabular und den Einsichten einer ebenfalls katholischen fundamentalen, aber nicht fundamentalistischen theologischen Tradition.

 

Als Einstieg wähle ich einen Satz aus der Fachzeitschrift „Bibel und Kirche“. Dort heißt es: „Himmel und Erde, Natur und menschliche Lebenswelt sind ein kunstvoller Organismus, in dem die einzelnen Elemente ineinander greifen“ (6). Das heißt doch und so kann es doch jeder verstehen: In der Schöpfung ist eine gesunde Ordnung der Werte des Lebens gespeichert, eine großartige Organisation und Logistik, wie später Wissenschaftler sagen werden. Demzufolge muss es auch unter Theologen unbestritten sein, dass es in unserer Wirklichkeit natürliche Existentiale, Lebensformate, Seinsfiguren gibt, die als feste Tatsachen akzeptiert werden müssen. Als zentrale und normale Seinsfigur des Menschen ist bibeltheologisch die Zweisamkeit, die Zuordnung und Verbundenheit von Mann und Frau eingeführt. Über das menschliche Wesen, das Gott erschuf, sagt der Schöpfer: „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein bleibt. Ich will ihm eine Hilfe machen, die ihm entspricht“ (Gen 2,18). Damit ist eine eindeutige autonome Seinsfigur und eine damit zusammenhängende Sinnsphäre in einer einfachen und für jedermann verständlichen Weise dargestellt. Eine zentrale Logik des Lebens ist in dem oben genannten Satz auf eine sehr schöne Art und Weise entschlüsselt und angeboten worden. In diesem „Wort Gottes“ ist eine Gabe und ein Ruf der Schöpfung verstanden worden. Hier konnte noch einfach und unverdorben gedacht werden. Hier konnte ein freundlicher Gott aufscheinen, freundlich zum Menschen, freundlich zur Frau, freundlich zum Mann. Und auch Gottes Schöpfung sollte Ausdruck dieser Freundlichkeit sein. Sie will, darf, kann und soll gefühlt werden. Nach den schönen biblischen Bildern von Gen 2,18 und 2,22 (wo Gott selbst die Frau dem Mann zuführt) gehört Eva für Adam zur Freundlichkeit und Güte des Lebens und umgekehrt. Eine solche liebevolle Ausgestaltung der Schöpfung sollte, so möchte man meinen, konkurrenzlos sein, auch in Anbetracht aller möglichen Herausforderungen, die mit diesem Format der Schöpfung verbunden sind. Es ist aber bei weitem nicht so!

 

Diese Schöpfungsgegebenheit, diese Logik Gottes stößt nun faktisch auf die zölibatäre Präferenz, wie sie für den Dienst der priesterlichen Amtsträger der Kirche verlangt wird - und stößt sich mit ihr. Eine Einrichtung der Kirche steht in deutlichem Kontrast zu unserer geschaffenen Wirklichkeit. Im Widerspruch zu einer originären alten wird eine neue autonome Sinnsphäre eingeführt, die zur Sein- und Sinnsphäre des Miteinanders von Mann und Frau quer liegt. Das ist nun kein an die Schöpfung gebundenes Existential, kein in der Schöpfung Gottes vorfindbares Gebilde, sondern eine von Menschen geschaffene Seinsfigur – eigentlich ein krasser Widerspruch zur Schöpfungswirklichkeit, eine Amputierung der fundamentalen Bezogenheit von Frau und Mann und eine Skelettierung des Individuums, eine Entscheidung ohne Anbindung an den Ursprung, ein Protest gegen Gen 2,18. Es ist eine klare Absage an die Begabungen und Aufgaben der menschlichen Geschöpfe, eine Absage an die bestmögliche irdische Beheimatung - und in der Folge eine Option gegen das Leben. Heute wissen wir, wie riskant menschliches Denken und Tun ist, wie gewagt es ist, neue Figuren zu schaffen und Neuschöpfungen wie den Pflichtzölibat zur Leitkultur für Gottes- und Menschendiener zu machen. Allein leben ist eine autonome Sinnsphäre geworden. Noch einmal, das ist eine radikale Abkehr vom Ursprünglichen, eine Auswanderung aus den Ordnungen der Schöpfung, eine radikale und in ihrer Art einmalige Abgrenzung gegen die Schöpfungsstruktur und -kultur, ein Verzicht auf eine natürliche Begabung und Aufgabe, eine Selbstabgrenzung einer Gruppe von der Schöpfungsgesellschaft, eine Präfiguration, die Einführung einer künstlichen Grenze zwischen „alter“ und „neuer“ Schöpfung. Fast ein neuer Typ von Religion! In der Tiefe unbezogenes Leben wird zu einer autonomen Sinnsphäre. Eine künstliche ausdifferenzierte Wert-, Sinn- und Verhaltenssphäre ist jetzt auf dem Platz. Von menschlichen Dilemmata einmal abgesehen wird ein theologisches Dilemma unausweichlich. Letztlich steht die Frage nach der Gültigkeit des Werkes Gottes im Raum. Denn nicht mehr Gott, der Mensch bestimmt jetzt sein Verhältnis zur Schöpfung in radikaler Weise. Das muss man klar sehen.

 

Bert Hellinger hat einmal geschrieben: „Der Glaube an den allmächtigen Gott hindert uns offenbar keineswegs, es mit der Welt noch besser machen zu wollen als er selbst“ (7). Und über sogenannte Daseinsentwürfe, die immer wieder entstehen, äußert er sich wie folgt: „Sie wollen gleichsam selbstschöpferisch eine andere Welt entwerfen und die Welt und den Menschen nach diesem Entwurf verändern. Die Welt und die Menschen sollen diesem Entwurf angepasst werden, notfalls sogar mit Gewalt, statt dass sich unsere Erkenntnis nach dem richtet, was ihr in dieser Welt vorgegeben ist und sich im Einklang mit ihr entwickelt und vollzieht“ (8). So ist in der kirchlichen Theologie leider etwas eingetreten, was nicht sein dürfte: Nicht mehr das Sein, die Wirklichkeit, die Fakten bestimmen den Kanon, die Richtschnur des Lebens, sondern ein menschlicher Kanon, ein menschliches Gebilde schafft neue Wirklichkeiten und bestimmt die Theologie und die kirchliche Praxis. Es muss schon auffallen, dass hier ein Kontrastprogramm aufgetischt wird, das in eine Kontrastgesellschaft mündet, abgesetzt von einer schöpfungsnahen Gesellschaft. Dabei wird kurzschlüssig immer wieder etwas verwechselt: Was wir brauchen, ist ein Kontrastprogramm zum Schöpfungsmissbrauch, nicht aber zur Schöpfung selbst. Diese Unterscheidung wahrzunehmen, ist ein Fall für die Logik, und die notwendigen Folgerungen zu ziehen, ist eine Sache der intellektuellen Redlichkeit.

 

„Die Eva, die brauchen wir nicht!“

 

Doch noch einmal zurück zur Grundstruktur unseres Seins: Paar-Sein, Ganzheit als Paar gehört im originellen Bilddenken des Buches Genesis zur Grundversorgung des Menschen. Eine auf einander hin geordnete und sich liebende Dyade (Zweiheit) erweist sich als grundsätzlich gut versorgt. Das gilt faktisch bis heute. Doch diese Gottesgabe (einschließlich ihrer Gestaltungsaufgabe) ist in einer Schöpfer- und Schöpfungsvergessenheit, in einer Schöpfer- und Schöpfungsmissachtung außer Kraft gesetzt worden. Durch eine defizitäre pessimistische Schöpfungstheologie, durch einen überzogenen „eschatologischen Vorbehalt“ („Das wahre Leben beginnt nach dem Tod“), durch aszetische Ideen, durch gelebtes Asketentum, später durch kirchliche Entscheidungen und Disziplinarverfügungen wurde die Schöpfung wieder in einen „Zustand vor Eva“ versetzt. Die „alte“ Theologie des Buches Genesis steht damit ganz schön dumm und nackt da. Denn eine „neue“ Theologie sagt seit langer Zeit und immer noch: „Die Eva, die brauchen wir nicht!“ und „Du, Gott, du allein genügst“! Und eine kirchliche Obrigkeit verfügt in der Folge bis heute: „Die Eva, die brauchen wir nicht!“ und: „Ohne Eva sind die Männer für dich, Gott, freier und verfügbarer“. Diese Logik muss man erst verdauen! Etwas unterhaltsam gefragt: Wie es wohl Gott, dem Erfinder der Liebe, damit gehen mag? Hat er nicht eher beabsichtigt, wir sollten uns solange auf die Erde und auf seine göttlichen Erfindungen einlassen, bis der Tod uns von ihnen scheidet?

 

Was das Problem der beiden gegensätzlichen Seinsfiguren und Sinnsphären nun vergrößert, ist das Faktum, dass diese neue autonome Sinnsphäre des zölibatären Lebens im Laufe der Kirchengeschichte eine ungeheuere Aufblähung erfahren hat. Das muss man ebenfalls klar sehen. Nach außen erscheint diese Figur jetzt wie ein Grunddogma der Kirche. Auf einmal gehört sie zur Substanz, zum Wesen der Kirche. Zölibatäres Leben bedeutet jetzt bestmögliches Zeugnis für und höchste Identität mit der Botschaft Christi. Eine ungedeckte Wertung wird zum Kerngeschäft der Kirche. Eine kultivierte Reflexion wird untersagt. Kritische Einwände werden ignoriert bzw. sanktioniert, Zustimmungspflicht und Verhaltensanweisungen dagegen höchst authorisiert (9). Die amtliche Qualifizierung des Zölibates erreicht zwar nicht die Härte, mit der die Ablehnung der Ordination von Frauen belegt wird, wenn Papst Johannes Paul II. von einer „endgültig zu haltende Lehre“ spricht, bzw. dass es für eine Änderung „keine Vollmacht vom Herrn“ gäbe. Aber auch für den Zölibat sucht man Begründungen, die, wenn man die einschlägigen Dokumente und Stellungnahmen der jüngsten Zeit durchsieht, eher dürftig wirken. Die theologische Argumentation ist äußerst dünn. „Treue zum Vorbild des Herrn“, oder „Treue zur alten Überlieferung“, oder „Übereinstimmung mit dem Plan Gottes für seine Kirche“ müssen für ein solch gewichtiges Thema als zu leicht befunden werden. Affirmationen sind auch wenig ertragreich, wenn etwa der Zölibat zum „strahlenden Edelstein in der Krone der Kirche“ hochstilisiert wird. Und Versprechen verfangen heute auch nicht mehr: „Himmlischer Lohn wird dem zuteil, der um des Himmelreiches willen Haus, Familie, Frau und Kinder verlässt“. So brodelt das Thema weiter dahin, wird amtlich zur Seite gestellt und einer sachlichen Diskussion entzogen. Es ist aber, wie man sieht, mit sämtlichen Begründungsversuchen, Immunisierungsstrategien, Staumauern und Durchhalteparolen nicht in den Griff zu bekommen.

 

Für Jesus, wenn man von einigen Übermalungen und Verfremdungen absieht, scheint die Gültigkeit der Schöpfungswirklichkeit außer Frage gestanden zu sein. Und das Folgende muss man als Theologe auch sehen: Ehelosigkeit scheint nicht auf der Liste der für Jesus wichtigen Themen gestanden zu haben. Das gleiche gilt auch für die Urkirche. Für eine erwünschte und noch weniger für eine verpflichtende zölibatäre Lebensgestaltung der Vorsteher der Gemeinden fehlen weitgehend Hinweise – und vor allem fehlen eine direkte Anweisung oder ein Zeichenhandeln Jesu. Es findet sich auch keine Gründungslegende ähnlich der, die es für den Vorrang des Apostel Petrus innerhalb des Apostelkollegiums gibt (Siehe Mt 16,18). Der 1. Timotheusbrief verweist eher auf das Gegenteil. Dort heißt es ganz pragmatisch - ich habe die Stelle bereits oben zitiert: „Wer seinem eigenen Hauswesen nicht vorstehen kann, wie soll der für die Kirche Gottes sorgen?“ (1 Tim 3,5). Anscheinend war in puncto Ehelosigkeit der Amtsträger keine vorzeig- und verwendbare Erinnerung zu sichern. Die Seinsfigur der Zuordnung von Mann und Frau hat dagegen in Gen 2,18 ihre „Gründungsurkunde“ – und diese auch noch einer sehr originellen und anmutigen Form. Vielleicht kann diese nicht unwesentliche Anmerkung auch einen Beitrag zur Entspannung der Debatte leisten.

 

Ich habe schon früher angeführt, dass die Kirche und ihre Theologenschaft zu Recht vor der Vergötzung der Schöpfung warnen und deutlich und engagiert dagegen ankämpfen. Es gibt für die Aufforderung zum Kampf genügend biblische Belegstellen. Das Gegenteil, die asketische Abwertung der Schöpfung und Schöpfungsverzicht finden kaum Kritiker und Gegner. Auch dies muss jeder Theologe aufmerksam wahrnehmen: Abkehr von und Missachtung der geschaffenen Wirklichkeit bleiben von fundamentaler Kritik verschont, werden sogar hochgelobt und als Lebensperspektive propagiert. Auch diese Tatsache hat dazu beigetragen, dass ein defizitäres Kontrastprogramm zur Schöpfung regulativ und „Leitkultur“ bei der Auswahl des Klerus wurde. Dabei sollte es doch darum gehen, die Schöpfung zu gebrauchen und aktiv zu gestalten statt ihr zu entsagen. Als einsamer kritischer Beobachter ragt hier Klemens von Alexandrien hervor, der weiß, „dass Ehelosigkeit in seelische Verdorrung führen kann: Ohne die heilige Erkenntnis kann der ehelose Mensch in Menschenhass geraten und von aller Liebe verlassen werden“ (10).

 

Weitere Fremdkörper neben der antichristlichen Philosophie eines tief verankerten Schöpfungspessimismus und Verachtung der „alten“ Welt sind noch eine Reihe von ideologiebesetzten „Theologien“, die sich von irrationalen asketischen Strömungen, von hysterischen Endzeiterwartungen, von einem falsch verstandenen eschatologischen Vorbehalt und von Verfolgungssituationen prägen ließen. Manchmal denke ich an einen Satz, der sehr treffend über die terroristischen Revoltierer der achtundsechziger Jahre geschrieben wurde: „Wer das gute Leben nicht kennt, der soll keine Revolution machen.“ Wer nicht glauben kann, dass die Schöpfung eine unsere Lebensrichtung bestimmende Offenbarung ist und dass es schon ein Leben vor dem Tod gibt, der soll sich nicht für einen Theologen halten.

 

Die Versuchung, „sein zu wollen wie Gott“

 

Dieser Beitrag ist überschrieben „Sein wie Gott – Problematik und Risiko der zölibatären Lebensform“. Theologen reden oft von Hybris, d.h. von Vermessenheit, von Überheblichkeit, wenn sie die Sündigkeit des Menschen charakterisieren wollen. Sie wissen, dass es schon immer den Traum, die Versuchung gab, anders sein zu wollen, wie man als Mensch nun einmal ist – bis heute. Es gab schon immer die Versuchung, wie Gott zu sein. Diese Gottesnähe soll durch Schöpfungsverzicht geschehen. Statt dass man sich mit den natürlichen Stellvertretern Gottes, mit seinem den Einzelnen ergänzenden Ebenbild auf Erden beschäftigt und seinem Mitmenschen dient, will man gleich Gott dienen bzw. sich gleich Gottes bedienen und so in seiner ganz besonderen Nähe zu sein. Ein Hinweis am Rande: Man könnte zu diesem Thema mit Gewinn den Beitrag von Tomás Hálik „Die Freude, nicht Gott zu sein“ in seinen „Nachtgedanken eines Beichtvaters“ (11) lesen. Die Theologie schweigt gewöhnlich zu diesen Grenzüberschreitungen, mit denen man sich Gottes bedient. Wenn Menschen schweigen, reden Steine, sagt ein Sprichwort. Wenn Theologen schweigen, dann reden heute eben Denker, Dichter, Psychologen und Publizisten. Die österreichische Psychotherapeutin Rotraud A. Perner hat in ihrem Buch „Sein wie Gott“ (12) eine durch langjährige Erfahrung authentische Studie vorgelegt, die sich mit den Gefahren des Allmachtswahnes auseinandersetzt und über eine tiefe Einsicht in die Materie einen guten Zugang zu diesem Feld eröffnet. Einen beachtenswerten Hinweis findet man auch bei Max Frisch. „Versündigung“, meint er, bestehe in der „lebenslänglichen Bemühung, anders zu sein als man erschaffen ist“, in der „Absurdität unserer Sehnsucht, anders sein zu wollen, als man ist“ (13). Am besten ist es wohl, wir bleiben Menschen bzw. werden immer mehr Menschen.

 

Ich komme zu einem letzten Punkt, der mir ganz besonders wichtig ist. In der Theologie ist definiert, dass die Ehe ein Sakrament ist, also ein zentrales Element des katholischen Glaubens. Im Sakrament wird Gott für den Menschen erfahrbar, wird der unsichtbare Gott vergegenwärtigt. Ein Sakrament ist eine Heilseinrichtung. Was davon für zölibatär lebende Seelsorger übrig bleibt, ist nichts weiter als eine Leerformel, eine ihn ausschließende theoretische Liebenswürdigkeit. Das Eintauchen in diese Bewegung Gottes zum Menschen und die liebende Antwort ist dem Seelsorger untersagt. Was der zölibatäre Priester die Menschen lehren und wozu er anleiten soll, kann und darf er selbst nicht leben bzw. erleben und beleben. Dabei gehört - noch einmal betont - die Beziehung von Mann und Frau zu den tiefsten religiösen Begegnungen, geadelt durch den Charakter eines Sakramentes. Auf dem Konzil von Nizäa 325 war es noch möglich, den Einwand zu erheben – ein Bischof namens Paphnutius wird dafür angeführt -, durch die Verpflichtung des höheren Klerus zur Ehelosigkeit werde die Bedeutung der Ehe herabgesetzt. Den Heilsweg der Ehe anzutreten wäre zudem eine Kampfansage an die durch Jahrhunderte mitlaufende Unterstellung, die Beziehung von Mann und Frau wäre primär ein Ort der Not, der Gefahr, des Versagens, der Sünde. Der Einstieg der „Elite“ wäre die beste, weil lebendige Propaganda für dieses Sakrament.

 

Ich fasse zusammen: Will Theologie heute ernst genommen werden, muss es einen neuen Respekt vor der Schöpfung als solcher geben. Ziel der Theologie wird es sein müssen, Menschen immer besser für das Sein, den Sinn und die Logik des Seins und des Daseins zu interessieren und aufzudecken, was der Schöpfung eingeschrieben ist. In ihr ist so viel entschlüsselbare Logik gespeichert. Vieles ist noch nicht rezipiert. Statt den ganzen „Text der Welt“ (schöne Wortprägung von Paul Konrad Kurz) und ihrer Ausformungen zu lesen, genügt vielen der halbe Text oder ein vages Darüberhuschen, wie es im kirchlichen Bereich mit der Beziehung von Frau und Mann geschieht. Man muss weiterhin endlich einsehen, dass verpflichtende Ehelosigkeit nicht auf der Liste der für Jesus wichtigen Themen steht. Das Thema hat mit der Substanz des Christentums nichts zu tun, es wirft eher ein schiefes Licht auf die Substanz. Will man den Menschen heute gute Nachrichten vermitteln, bedarf es der Akzentsetzung auf das Wesentliche und auf die innere Logik. Die Allgemeinheit weiß vielfach zu gut, wie viele Unzulänglichkeiten, Irrwege, Selbstfesselungen, Selbsttäuschungen, Fixierungen, Behauptungen, Verfügungen, wie viel ideologisches Getriebe es auch im theologischen Bereich gab. Diesem unguten Getriebe sollte endlich Macht und Nahrung entzogen werden.

 

Kompetente und wohlwollende Außenansichten, die zu denken geben

 

In den Humanwissenschaften sind heute so viele menschliche Erfahrungen verarbeitet und ist so viel exaktes und befreiendes Wissen erarbeitet worden, dass man um eine Begegnung damit nicht mehr herumkommt. So wird in Wissenschaft und Forschung die geschlechtliche Prägung und die Zusammengehörigkeit von Mann und Frau durchgehend als anthropologische Grundkonstante und wesentliches Existential und die zölibatäre Präferenz als Abweichung und Vulnerabilitätsfaktor, als möglicher Gefahrenherd angesehen. Außenquellen werden heute auch für Theologie und Pastoral immer entscheidender. Biblische Schriften und theologische Tradition sind längst nicht mehr alleiniger Lieferant für effektives und ethisches Denken und Tun. Anthropologische Äußerungen und psychologische Feststellungen in Bibel und Tradition sind kontextabhängig und treffen nicht immer ins Schwarze. Ich schätze die Quelle der Humanwissenschaften sehr und habe viel, aber immer noch zu wenig daraus geschöpft.

 

Viele wissenschaftliche Erkenntnisse über den Menschen und über seine Lebensbedingungen hat die Philosophie aufgegriffen. Ich verweise auf Martin Buber oder Peter Sloterdijk, um zwei von vielen Namen zu nennen. Anderes ist in die Dichtung eingeflossen. Ich denke an Robert Musil und sein Werk „Der Mann ohne Eigenschaften“. Wo Beziehung sein soll, ist im Roman Musils bei diesem Mann Leere. Er ist ohne seelischen Halt und wie „von sich selbst abgezogen“ (14). Ergebnis: Das Abgezogene, das Unterdrückte entlädt sich erfahrungsgemäß immer wieder gewaltsam. Auch der französische Schriftsteller Charles Péguy stellt eindrucksvoll psychische Degenerationsformen gerade religiöser Menschen fest, die unfähig sind, im Irdischen zu bleiben und sich in ihm durchzusetzen. Es sind Worte, die mich im Blick auf mein Thema immer bewegt haben, weil sie zu einer tiefen Besinnung einladen. Péguy schreibt über Menschen, die sich eine gewisse Unabhängigkeit gegenüber der Welt einbilden: „Weil sie nicht die Kraft (und die Gnade) haben, der Natur anzugehören, meinen sie schon, sie gehörten der Gnade an. Weil sie nicht den Mut dieser Erde besitzen, meinen sie schon, sie seien in die Tiefen des Ewigen eingedrungen. Weil sie nicht den Mut haben, in der Welt ihren Mann zu stellen, wähnen sie schon, Gottes zu sein. Weil sie nicht den Mut haben, sich unter den Menschen auf eine Seite zu schlagen, glauben sie schon, auf Seiten Gottes zu stehen … Weil sie niemanden lieben, glauben sie, sie liebten Gott“ (15).

 

Ich verweise gerne auch immer wieder auf Erich Fromm und Paul Watzlawick, die soviel Schönes und Wesentliches zur Grundkonstante Beziehung geschrieben haben. Ich habe sie an anderen Orten wiederholt erwähnt. Für Psychologen moderner Couleur gehört Beziehung zur geschöpflichen Wahrheit und zur Ganzheit. Ganzheit sollte ja unser Selbstkonzept lauten. Wenn unsere geschlechtliche und soziale Wahrheit verborgen bleiben muss, wenn sie verdrängt wird, entsteht ein gewaltiger Verlust, nimmt die Ganzheit Schaden. Ein Teil des uns real zur Verfügung stehenden Lebenspotentials geht verloren. Der Verlust wird als Verletzung empfunden. Durch die Abspaltung des Allzumenschlichen wird kein Mensch vollkommener und gesünder. Unterdrückung und Abspaltung machen krank. Wieviel Kraft geht beispielsweise bei der Abwehr von Gefühlen verloren. Ausschließen und Sich-verschließen machen eng und lassen das Herz erstarren. Solches führt u.a. auch zu den „kranken Seelen der Seelsorger“. Aber nicht nur die Seele, auch der Körper kann zur Hölle werden. Ungebundenheit führt oft genug zu körperlichen Symptomen, zu Verstimmungen, zum Verblühen, zum Erlahmen. Und die Gegenwart des Göttlichen erlebt man in einem ausgebrannten Priester auch nicht mehr.

 

Zölibatäre Präferenz stellt keine Ganzheit dar. In der Verbindung von Mann und Frau ist Ganzheit erst möglich. Das geschaffene Andere muss aufgenommen, das als Ergänzung Gedachte muss hinzugefügt werden. Ich muss es annehmen, er-füllen, durchdringen, bestätigen. Und auch ich selbst muss Ziel einer auf mich gerichteten Aufmerksamkeit werden, mich gemeint und gewollt und liebevoll durchschaut fühlen. Johannes B. Schmidt spricht von einem instinktiven Verlangen, sich vom Anderen gefühlt zu fühlen und von der Notwendigkeit eines vertraulichen „Gefäßes“ bzw. „sensibler Begegnungs- und zwischenmenschlicher Kontakträume“ (16), wenn es um Wachstum und Heilung geht. Hier schließt sich gut die Pragmatik einer Rotraud A. Perner an, die dazu auffordert, sich um eine gleich wissende, fühlende und körperlich adäquate Partnerperson zu kümmern. Der Mensch müsse für sein Glück Teil einer gleichwertigen und gleichstarken Partnerschaft sein. Der Andere müsse eine gleich große Person darstellen. Die Symmetrie müsse stimmen (17). Nur ein weites offenes Herz auf gleicher Ebene kann nehmen und geben, befriedigt, macht zufrieden und schafft Frieden.

 

Rotraud A. Perner, die die klerikale Szene gut kennt, weist auf zwei ganz zentrale Aspekte hin, die auch für Gottes- und Menschendiener gelten und die ihr aus ihrer Supervisionstätigkeit mit psychotherapeutischen Kolleginnen und Kollegen bestens bekannt sind. Nach ihrer leicht nachvollziehbaren Erfahrung sind ganze Menschen, d.h. in genügend gute Beziehungen eingebettete Menschen viel weniger als Singles eine Gefahr für andere. „Die Kundschaft wünscht sich gut aufgestellte Menschendiener“ (18), diese Botschaft durchzieht ihr ganzes Buch „Sein wie Gott“, und das bedeutet vorrangig, die fundamentalen persönlichen Interessen der Priester müssen vorab gesichert sein, damit sie auch anderen gegenüber enthaltsam sein können. Dann sei man stark genug, sich selbst physisch, psychisch und mental klare Grenzen zu setzen. Das wäre dann eine andere, das wäre die richtige Art von Zölibat. Perner weiß genau, dass eine schicksalhafte oder frei gewählte Einsamkeit der Therapeutinnen und Therapeuten der bedrohlichste Risikofaktor ist, der oft dazu führt, die fehlende Lebensenergie sich durch Manipulation der Klienten zu organisieren, statt den menschlichen Tiefen und Untiefen fachlich zu begegnen. Die Psychotherapeutin kann überzeugend darüber reden, wie eigene innere Leere dazu verführt, energiespendende Klientinnen und Klienten anzuzapfen. Sie hat die Erfahrung gemacht, dass - sofern feste Einbindungen fehlen -, Lebenskrisen eines Therapeuten die meisten Auslöser für Übergriffe darstellen. Hier ist die säkulare Therapie ehrlicher und durchreflektierter als die kirchliche Seelsorge.

 

Der zweite Aspekt, der Perner wichtig ist, besteht in ihrer Aussage: Wer sein eigenes „Glück im Hause“ (S. Freud) hat, ist als Gottes- oder/und Menschendiener auch weniger angreifbar und durch andere gefährdet. Klientinnen und Klienten spüren dann, dass der Therapeut oder Seelsorger beheimatet ist. So kann auch Alleinsein und Sexualität des Priesters nicht zum Geheimnis und zur Projektionsfläche für alle möglichen Fantasien werden. Und der Seelsorger braucht dem Hilfesuchenden auch nicht mit falscher Distanz oder Abwehr begegnen. Kurz und gut, wer sein „Glück im Hause“ hat, missbraucht eher nicht – und lässt sich auch nicht missbrauchen. Wenn fundamentale persönliche Interessen vorab gesichert sind, wenn Gottes- und Menschendiener emotional von einem antwortenden Du erfüllt sind, hat in ihrer Gefühlswelt kein anderer einen intimen Platz. Und Gottes- und Menschendiener bedeuten auch keine Gefahr für Andere. Soweit die Erfahrung von Rotraud A. Perner.

 

Entscheidende Beiträge zur partnerschaftlichen Lebensgestaltung haben auch viele systemisch ausgerichtete Therapeuten vor allem auch über Partner- und Familien-aufstellungen geleistet. Wunderbares habe ich hierzu bei Bert Hellinger, Otto Brink, Jakob Schneider, Franz Ruppert, Stefan Hausner, Bertold Ulsamer, Thomas Schäfer u.a. gelesen, gesehen und gelernt und in der therapeutischen Praxis selber angewandt. Ich verweise auf die zahlreich vorliegende systemorientierte Literatur. Ebenso auch auf das neurobiologische Fachwissen. Forscher wie der Neurobiologe Joachim Bauer konnten eine Anthropologie vorlegen und schlüssig darstellen, dass der Mensch ein Wesen sei, „dessen zentrale Motivation auf Zuwendung und gelingende mitmenschliche Beziehungen gerichtet ist“ (19). Vorenthaltene soziale Kontakte führten zum „biologischen Kollaps“ (20). Die zahlreichen Werke von Joachim Bauer sind eine wunderbare, erfrischende und gut verständliche Fachlektüre, ebenso die einschlägigen Werke seines Kollegen Gerald Hüther (21).

 

Zu Gehör bringen möchte ich hier auch die Stimme der Soziologie. Sie weist uns ja mit allem Ernst darauf hin, dass die Kirche bei allem Selbstverständnis, sakramentales Zeichen des Reiches Gottes zu sein, auch als soziale Größe fungiert, die ihre Weltlichkeit reflektieren muss, also die Organisation ihrer Sendung, ihre Personalausstattung, die Vor- und Nachteile ihrer operativen Entscheidungen, die Kosten-Nutzen-Analysen, die Risiken und Nebenwirkungen ihres Tuns, die adäquaten Reaktionen auf die Zeit, die Ausstattung mit neuen Geschäftsideen und dergleichen mehr. In meiner Hand befindet sich ein Referat des hochangesehenen amerikanischen Religionssoziologen und Trägers des Theologischen Preises der Salzburger Hochschulwochen 2012, Prof. Dr. José V. Casanova, der als Soziologe und sich für die Pastoral der Kirche verantwortlich fühlender Laie gehört werden will. Casanova, der in Innsbruck Theologie studierte, bekennt von sich, dass diese Ausbildung nicht nur Grundlage seiner soziologischen Arbeit, sondern seines gesamten intellektuellen und akademischen Lebens geworden sei. Wenn es um die Geschlechterfragen, um Geschlechtergerechtigkeit und Teile der kirchlichen Sexualmoral geht, ist seiner Meinung nach „unsere Kirche, zumindest unsere Hierarchie und das Lehramt gescheitert, diese neue Herausforderung theologisch anzugehen“ (22). Sie ist wieder einmal zu spät dran, viel zu spät, wie es bereits im Kampf gegen die Sklaverei und bei der Annahme der Menschenrechte der Fall war. Trotz der evidenten Wahrheit, dass Mann und Frau gleich geschaffen sind, diagnostiziert Casanova, ist die Obrigkeit reaktionär und fundamentalistisch und riskiert immer mehr, dass sie gegen unmoralischen und anomischen (gesetzlosen) Trends unserer Zeit nicht mehr glaubwürdig und zuständig wirken und keine kritische prophetische Rolle mehr spielen kann. Über seine kirchliche Verantwortung stellt er fest: „Ich fühle mich aufgerufen, meine Verantwortung als Soziologe und Laie zu übernehmen und meine persönliche soziologische Reflexion dessen vorzubringen, was ich für die zentralen Herausforderungen für die Kirche in der Welt von heute betrachte … Ich hoffe, dass meine kritische soziologische Reflexion eine ernsthafte theologische Reflexion innerhalb der Kirche provozieren kann“ (23). Nur nebenbei: Bei der Preisverleihung in Salzburg vor einem Jahr wurden Casanovas Studien als “ganz im Sinn von Gaudium et Spes“ (d.h. ganz im Sinn der Konzilskonstitution über die Kirche in der Welt von heute) und als „eine entscheidende Außenquelle für die Theologie“ (24) bezeichnet.

 

Interessante Außenansichten liefert auch der Blick in die Kiste der Physik, der recht erquicklich ist, wenn es um Abhandlungen geht, die die Grundfragen der Wirklichkeit betreffen. Besonders angesprochen haben mich im Blick auf mein Thema die Ausführungen von Harald Lesch und Jörn Müller zur Energie des Vakuums, die bei jedem Abzug von der Ganzheit einer Wirklichkeit entsteht und die von Dynamik nur so strotzt. Aber vielleicht ist der Hinweis auf diese Wahrnehmung von zu weit hergeholt. Näheres dazu ist bei den genannten Autoren zu finden (25).

 

Es gäbe zu diesen Außeransichten noch vieles hinzuzufügen. Ich belasse es bei diesen Denkanstößen aus den Feldern der anthropologischen Einsichten.

 

Innenansichten – Selbstreflexion des Klerus

 

Die bisherige Pastoral versuchte die Effektivität der Weitergabe des Glaubens so zu organisieren, dass sie den Priester frei halten wollte von Ehe und Familie und in einen eigenen Stand der Kleriker einbettete. Vor allem sollten die Priester aus einer tiefen Nähe zu Christus ihre zölibatäre Position vorbildlich durchhalten. In einem bestimmten Kontext und in bestimmten Situationen mag dies sinnvoll und auch effektiv sein, vorausgesetzt dass der Entschluss dazu von einer umfassenden Selbsterkenntnis und von einer wirklich freien Entscheidung getragen ist. Es gibt nun aber auch die Erfahrung, dass das Spirituelle nicht mehr die Leere ausfüllen konnte, die zölibatäre Menschen in sich spürten, auch nicht die Beziehung zu Jesus Christus - und Gott allein genügte auch nicht. Bewegendes über seine Einsamkeitserfahrungen beschreibt Erzbischof Rembert Weakland von Milwaukee in seinen Memoiren: „Ich nahm sehr bald wahr, dass eine Beziehung zu Jesus Christus, so intensiv sie auf einer spirituellen Ebene auch sein mag, nicht die Leere zu füllen vermochte, die aus dem Fehlen von körperlicher Anwesenheit und Wirklichkeit eines anderen Menschen erwuchs“ (26). Durch solche ehrliche Eröffnungen scheint sich das Blatt allmählich zu wenden. Eine neue Nachdenklichkeit bahnt sich an und die Einsicht wächst: Bei aller Beheimatung in Gott und in Christus braucht der Priester auch ein menschliches Zuhause.

 

Zu dem beherrschenden Neuen der letzten Jahre gehört, dass die Priester sich selbst gegen die offizielle Pastoral auflehnen und die anstehenden Sachen in die Hand nehmen – man denke nur an das Beispiel der österreichischen Pfarrerinitiative „Aufruf zum Ungehorsam“. Schöpfungs- und Inkarnationstheologie sowie die Zeichen der Zeit haben den Denkrahmen erweitert und sind bereits in konkretes Handeln eingeflossen. Immer breiter wird die Sorge um die Zukunft der Verkündigung, die sich heutige Seelsorger in vielen Formen wünschen und die sie zeitgemäß gestalten wollen. Und ganz tief äußern sie auch die Sorge um das eigene Dasein und das Dasein der Mitbrüder. Viele fühlen sich vernachlässigt und in ihrem Durchkommen bedroht. Sie fragen: Wie kommen wir persönlich weiter? Wie bleiben wir nicht auf der Strecke, theologisch-spirituell, körperlich-seelisch-geistig, beziehungsmäßig-sozial? Zu offen kommen die Probleme zu Tage, die Überforderung durch die zu geringe Zahl der „Arbeiter im Weinberg“, das Single-Dasein in einer immer kälter werdenden Umwelt, die Selbstüberforderung, weil niemand Stopp sagt, die Fehlanzeige in der Kommunikation über Persönliches, die abnehmende Ausstrahlung, des weiteren Gesundheitsprobleme, Kreislaufschwierigkeiten, Schlafstörungen, Schlappheit, Rückzug aus der Wirklichkeit, Abtauchen mancher Kollegen in himmlische Sphären, hoher Kraftverbrauch bei der Abwehr von Gefühlen, Probleme mit Ersatzbefriedigungen, Gefahr für andere und Gefährdung durch andere bei ständiger Erschöpfung und Suche nach Kompensation u.ä. Wie realistisch man die Situation auch sehen kann, zeigt Rotraud A. Perner in ihrer bereits erwähnten Studie „Sein wie Gott“. Sie schreibt: „Eigene innere Leere drängt nach Erfüllung. Die Gefahr, sich unbewusst von ‚Klienten´ voll machen zu lassen, ist allgegenwärtig. Sie bringen all das Abgespaltene dar, das man so gerne überwunden wähnen möchte, das aber zur Erlangung von Ganzheit … regelmäßig immer wieder aufs Neue integriert werden muss. Sich nur geistig mit der Idee vom großen Ganzen – sei es ‚Gott´ oder das Universum – zu vereinen, schafft keine Ganzheit … Ich meine, der Beruf des Heilers trägt es in sich, zu erkennen und … aufzudecken, was Ganzheit zerstört“ (27). Immer mehr ins Bewusstsein der Priester kommen auch die Teilnahme an Supervisionen und die Einflüsse der Humanwissenschaften, etwa die vielen neuen Erkenntnisse der Gehirnforschung, und ebenso auch das Verstehen der Symptome als „Rückmeldungen“, dass irgendwo Qualitätserfordernisse nicht erfüllt wurden bzw. Qualitätselemente außer Acht gelassen wurden. Denn „es gibt menschliche Grundwahrheiten, zu denen das Leben früher oder später wieder zurückfinden wird“, wusste schon Dietrich Bonhoeffer. Manche Erkenntnisse und Hilfen kommen allerdings zu spät. Wenn man das Leben einer Reihe von Gottes- und Menschendienern vom Lebensende her ansieht, dann merkt man oftmals, wie unerfüllt oder verausgabt dieses Leben war. Dabei ist doch auch für Priester wichtig, was am Ende da steht: „Mal sehen, wie die Kunst des Lebens am Ende aussieht. Mal sehen, wie so ein König und Meister sein Leben beschließt?“, will Janosch in seinem Roman „Polski Blues“ (28) wissen, als seine Hauptfigur einen bekannten früheren König der Jazzer im hohen Alter aufsucht. Der frühere König war verrückt geworden. Über das Ende der Seelsorger gibt es keine Statistik, auch keine Kosten-Nutzen-Analysen, nur persönliche Wahrnehmungen und persönliche Mitteilungen. Ich weiß: Manchmal ist das Ende eine Tragödie. Ein Telefongespräch dieser Tage mit der Aussage „Unser alter Pfarrer im städtischen Seniorenheim ist ein Jammertal“ bringt dies erschütternd zum Ausdruck. Wie lange wird es noch dauern, bis auch die Pastoral zu den menschlichen Grundwahrheiten zurückfindet! Im letzten Fall möchte man das eben erwähnte Zitat von Bonhoeffer am liebsten wieder streichen. Dieser Seelsorger ist wirklich zu spät dran!

 

Zum Schluss zitiere ich einen Mann, bei dem jahrelang die Fäden priesterlicher Nöte zusammengelaufen sind und dem immer wieder nachgesagt wurde, er tanze auf zwei Hochzeiten. Ich meine den Theologen, Psychotherapeuten und Leiter des Recollectio-Hauses der Benediktinerabtei Münsterschwarzach, Wunibald Müller. Klarer kann das Ergebnis seiner Analysen nicht ausfallen, mit der er jetzt nachhaltig das Ende der verpflichtenden Ehelosigkeit bei katholischen Priestern fordert: „Eigentlich soll der Zölibat den Priestern Energie schenken, aber bei vielen passiert genau das Gegenteil; sie reiben sich ein Leben lang auf, hinken immer hinterher, wollen etwas leben, was sie überfordert“ (29). Was soll man dem noch hinzufügen?

 

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Anmerkungen

 

1 Michael Reder und Josef Schmidt (Hrsg.), Ein Bewusstsein von dem, was fehlt – Eine

   Diskussion mit Jürgen Habermas, Frankfurt am Main 2008

2 Tilmann Moser, Von der Gottesvergiftung zu einem erträglichen Gott, Stuttgart 2003

   Tilmann Moser, Gott auf der Couch, Gütersloh 2011

3 Gerhard Nachtwei in: DIAKONIA 41 (2010), 5, hrsg. v. Verlag Herder, Freiburg im

   Breisgau

4 Christian Schütz (Hrsg.), Praktisches Lexikon der Spiritualität, Freiburg im Breisgau 1988,

   259

5 Ebd. 257

6 Bibel und Kirche 1/2005, hrsg. v. Katholischen Bibelwerk Stuttgart

7 Bert Hellinger, Finden, was wirkt, München 1995, 169 f.

8 Bert Hellinger, Wahrheit in Bewegung, Freiburg im Breisgau 2005, 19

9 Siehe Internet: Papst Johannes Paul II, Apostolisches Schreiben „Ordinatio Sacerdotalis

   vom 22.05.1994 und Papst Benedikt XVI, Predigt bei der Chrisam-Messe am Gründon-

   nerstag, den 05.04.2012

10 Zit. in Karl Rahner, Glaube, der die Erde liebt, Freiburg im Breisgau 1966, 118

11 Tomás Halík, Nachgedanken eines Beichtvaters, Freiburg im Breisgau 2012, 122 ff.

12 Rotraud A. Perner, Sein wie Gott, München 2002

13 Max Frisch, Stiller, zit. in: Bibel und Kirche 2/2004, 100, hrsg. v. Katholischen Bibelwerk

     Stuttgart

14 Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Berlin 2013

15 Charles Péguy, zit. in Richard Egenter, Kitsch und Christenleben, Ettal 1962, 188

16 Johannes B. Schmidt, Der Körper kennt den Weg, München 2008, 259

17 Rotraud A. Perner, Sein wie Gott, München 2002, 208 ff.; 228

18 Ebd. – Durchgängige Botschaft       

19 Joachim Bauer, Prinzip Menschlichkeit, Hamburg 2007, 7 – Siehe auch 21 f.

20 Ebd. 36

21 Ich verweise hier besonders auf Gerald Hüther, Die Freiheit ist ein Kind der Liebe und

     Maik Hosang, Die Liebe ist ein Kind der Freiheit, Freiburg im Breisgau 2012

22 José V. Casanova, Die Kirche in der Welt: Die theologische Verantwortung eines Sozio-

     logen und Laien in: Korrespondenzblatt des Canisianums 2012/2013, Heft 2, 24

23 Ebd. 22

24 Ebd. 21

25 Harald Lesch / Jörn Müller, Kosmologie für helle Köpfe, München 2006, 151 f.

26 Zit. bei: Wunibald Müller, Liebe und Zölibat, Kevelaer 2012, 107-108

27 Rotraud A. Perner, Sein wie Gott, München 2002, 51-52

28 Janosch, Polski Blues, München 1991, 7

29 Publik-Forum Nr.6 – 2013, 8