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Irreführende und nichtchristliche Begriffe in kirchlichen Lehrdokumenten:
„Egoismus“ und „egoistisch“

 

Wenn Papst Johannes Paul II. in seiner Enzyklika „Sollicitudo rei socialis (1987) das destruktive Verhalten von Menschen thematisiert, spricht er von „Egoismus“ und beschreibt diesen mit „Gier nach Profit“, dem „Verlangen nach Macht“ und mit „anderen den eigenen Willen aufzuzwingen“ (Kap 37).

„Egoismus“ und „egoistisch“ sind Begriffe, die man als Therapeut oder als Seelsorger nie verwendet, wenn es um die Beschreibung des destruktiven Verhaltens eines Menschen geht. In einem lehramtlichen Text ist das in meinen Augen oberflächlich, irreführend und entspricht nicht dem christlichen Glauben. Mit solchen Begriffen wird ein Mensch nicht verstanden, sondern mit einem Etikett versehen. Destruktive Verhaltensweisen werden vom damaligen Papst häufig als Sünde bezeichnet oder als verursacht von „Strukturen der Sünde“ oder von der „Erbsünde.

 

Papst Franziskus spricht in solchen Zusammenhängen oft vom Teufel. Aber auch in dessen Enzyklika „Fratelli Tutti“ (2020) ist oft von „Egoismus“ und „egoistisch“ zu lesen. Dabei sieht er den Egoismus als Teil der sogenannten „Konkupiszenz“, die im Deutschen oft mit „Begierlichkeit“ wiedergegeben wird (Fratelli Tutti, Kap. 166) und als Neigung zur Sünde verstanden wird. Aber auch dieser traditionelle moraltheologische Begriff ist veraltet und zeigt, wie defizitär der Dialog der Kirche mit den Erkenntnissen der modernen Psychologie ist.

Alle diese moralisierenden oder traditionellen theologischen Begriffe sind wenig hilfreich, um die Ursachen des destruktiven und verletzenden Verhaltens eines Menschen heute zu verstehen.

 

Deshalb hat Jesus vor ca. 2000 Jahren aufgefordert „richtet nicht!“ (Mt 7,1) und das II. Vatikanum hat diese Forderung Jesu aufgegriffen, wenn es in „Gaudium et Spes“ heißt:
„Gott verbietet uns, über die innere Schuld von irgendjemandem zu urteilen“ (GS 28)

In dieselbe Richtung weist ein anderes Wort Jesu: „Denn … (Gott) ist gütig gegen die Undankbaren und Bösen.“ (Lk 6,35c)

Jesus lehnt offensichtlich moralisierende und abwertende Begriffe entschieden ab. Aber wir Menschen schaffen es gewöhnlich nicht, auf abwertende Bezeichnungen gegenüber verletzenden Mitmenschen zu verzichten, wenn wir nicht in einem beständigen Prozess des tieferen Verstehens bleiben. Dieser Prozess ist erst an sein Ziel gelangt, d.h. wir haben einen Menschen erst verstanden, wenn wir die Schicksalsbelastungen, die seelischen Verstrickungen und geschöpflichen Kleinheitserfahrungen erkennen, die bei diesem Menschen Minderwertigkeitsgefühle ausgelöst haben, die dieser dann mit destruktiven Verhaltensweisen (Habsucht, Herrschsucht, Egoismus, …) zu kompensieren versucht.

 

Wenn kirchliche Glaubensdokumente aber mit abwertenden Begriffen das destruktive Verhalten der Menschen beschreiben, dann haben offensichtlich die Verantwortlichen im Vatikan keine zeitgemäße theologische Anthropologie entwickelt und zentrale Aussagen der Bibel und damit den christlichen Glauben noch nicht verstanden.
Warum verstehen die Verantwortlichen im Vatikan so wenig von der Psyche des Menschen und vom Sinn der Gebote in der Bergpredigt Jesu (Z.B. Mt 7,1: „Richtet nicht!“)?
Und warum konfrontieren unsere Theologieprofessoren und Bischöfe die Verantwortlichen im Vatikan nicht mit ihren Defiziten?

 

 

Zitate aus der Sozialenzyklika „Sollicitudo rei socialis“ von 1987
von Papst Johannes Paul II.:

Egoismus (5x): In den Kap 10; 14; 26; 36; 47;

Egoistisch (2x): 23; 39

 

(10) Darum sind wir im Licht jenes Wortes von Papst Paul VI. aufgefordert, den Begriff der Entwicklung zu überprüfen, der gewiß nicht mit jenem übereinstimmt, der sich darauf beschränkt, die materiellen Bedürfnisse durch ein wachsendes Angebot von Gütern zu befriedigen, ohne auf die Leiden der Mehrheit der Menschen zu achten, und den Egoismus von einzelnen oder ganzer Nationen zum Hauptmotiv macht. Daran erinnert in scharfer Weise der Jakobusbrief: "Woher kommen die Kriege bei euch, woher die Streitigkeiten? Doch nur vom Kampf der Leidenschaften in eurem Innern. Ihr begehrt und erhaltet doch nichts" (Jak 4,1 f.).

 

(14) Wie es nämlich soziale Ungleichheiten bis zu den Stufen des Elends auch in reichen Ländern gibt, so beobachtet man entsprechend in den weniger entwickelten Ländern nicht selten Zeichen von Egoismus und Zurschaustellung von Reichtum, die ebenso empörend wie skandalös sind.

 

(26) Aus der tiefen Erfahrung von Sorge und Angst sowie von Fluchtmitteln wie den Drogen, die für die Welt von heute charakteristisch sind, erhebt sich allmählich die Einsicht, daß das Gut, zu dem wir alle berufen sind, und das Glück, nach dem wir uns sehnen, ohne die Anstrengung und den Einsatz aller, niemanden ausgeschlossen, und ohne konsequenten Verzicht auf den eigenen Egoismus nicht erreicht werden können.

 

(36) Man gelangt aber nicht leicht zu einem tieferen Verständnis der Wirklichkeit, wie sie sich unseren Augen darbietet, wenn man der Wurzel der Übel, die uns bedrängen, nicht auch einen Namen gibt.
Man kann gewiß von "Egoismus" und von "Kurzsichtigkeit" sprechen; man kann auf "falsche politische Einschätzungen", auf "unkluge wirtschaftliche Entscheidungen" hinweisen.

 

(37) An diese allgemeine Analyse religiöser Natur können sich nun einige mehr ins einzelne gehende Überlegungen anschließen, um zu bemerken, daß die bezeichnendsten Handlungen und Verhaltensweisen, die im Gegensatz zum Willen Gottes und zum Wohl des Nächsten stehen, sowie die "Strukturen", die sie herbeiführen, heute vor allem zwei zu sein scheinen: auf der einen Seite die ausschließliche Gier nach Profit und auf der anderen Seite das Verlangen nach Macht mit dem Vorsatz, anderen den eigenen Willen aufzuzwingen.

 

(47) Auch wenn es bitter klingt, muß man sagen, daß man, wie durch Egoismus und übersteigertes Verlangen nach Gewinn und Macht, angesichts der bedrängenden Nöte von ungezählten Menschen im Bereich der Unterentwicklung auch durch Angst, Unentschlossenheit und im Grunde durch Feigheit sündigen kann.

 

(23) Wenn der Westen den Eindruck macht, sich in Formen einer wachsenden egoistischen Isolierung zurückzuziehen, und der Osten seinerseits aus fragwürdigen Gründen die eigene Verpflichtung zu ignorieren scheint, den Einsatz für die Erleichterung des Elends der Völker mitzutragen, handelt es sich nicht nur um einen Verrat an den berechtigten Erwartungen der Menschheit, der unvorhersehbare Folgen ahnen läßt, sondern um ein echtes Versagen vor einer moralischen Verpflichtung.

 

(39) Die Gruppen der Mittelschicht ihrerseits sollten nicht in egoistischer Weise auf ihrem Eigenvorteil bestehen, sondern auch die Interessen der anderen beachten.

 

 

 

Zitate aus der Enzyklika „Fratelli Tutti“ von Papst Franziskus (2020):

Egoismus (4x): In den Kap. 11; 89; 113; 166.

Egoistisch (5x): 35; 89; 159; 199; 229

 

In verschiedenen Ländern geht eine von gewissen Ideologien durchdrungene Idee des Volkes und der Nation mit neuen Formen des Egoismus und des Verlusts des Sozialempfindens einher, die hinter einer vermeintlichen Verteidigung der nationalen Interessen versteckt werden. (11)

 

Exklusive Gruppen und selbstbezogene Paare, die sich als „Wir“ in Abgrenzung vom Rest der Welt definieren, sind in der Regel veredelte Formen des Egoismus und reiner Abschottung. (89)

 

Jede Gesellschaft muss für die Weitergabe von Werten sorgen, denn wenn dies ausbleibt, werden Egoismus, Gewalt und Korruption in ihren verschiedenen Formen sowie Gleichgültigkeit verbreitet, ein Leben letztlich, das jeder Transzendenz verschlossen ist und sich in individuellen Interessen verschanzt. (113)

 

Das Problem ist die menschliche Schwachheit, die beständige menschliche Tendenz zum Egoismus, der Teil dessen ist, was die christliche Tradition „Begierlichkeit“ nennt: die Neigung des Menschen, sich in der Immanenz des eigenen Ichs zu verschließen, seiner Gruppe, seiner armseligen Interessen. Diese Begierlichkeit ist kein Fehler unserer Epoche. Sie gibt es, seit der Mensch existiert. Sie wandelt sich einfach und nimmt im Lauf der Jahrhunderte verschiedene Formen an, indem sie die Werkzeuge verwendet, die ihr der historische Augenblick zur Verfügung stellt. Aber mit Gottes Hilfe ist es möglich, sie zu beherrschen. (166)

 

Ist die Gesundheitskrise einmal überstanden, wäre es die schlimmste Reaktion, noch mehr in einen fieberhaften Konsumismus und in neue Formen der egoistischen Selbsterhaltung zu verfallen. (35)

 

Aber »zwischen der egoistischen Gleichgültigkeit und dem gewaltsamen Protest gibt es eine Option, die immer möglich ist: den Dialog. (199)

 

Leicht verschwindet heute die edelste soziale Gesinnung hinter einer egoistisch geprägten Vertrautheit, die nur den Anschein intensiver Beziehungen erweckt. (89)

 

Andere Male wird auf Popularitätsgewinn gezielt, indem die niedrigsten und egoistischen Neigungen einiger Gruppierungen der Gesellschaft geschürt werden. (159)

 

Wie die Bischöfe Südafrikas lehrten, wird wahre Versöhnung proaktiv erreicht, nämlich dadurch, »dass man eine neue Gesellschaft formt, die auf dem Dienst am Nächsten gründet, anstatt auf dem Wunsch zu dominieren; eine Gesellschaft, die darauf beruht, dass man mit dem anderen teilt, was man besitzt, anstatt dass jeder egoistisch um den größtmöglichen Reichtum kämpft; eine Gesellschaft, in der der Wert des Zusammenseins als Menschen letztlich wichtiger ist als jede kleinere Gruppe, sei es Familie, Nation, Volk oder Kultur«. (229)

 

Manfred Hanglberger (www.hanglberger-manfred.de)

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