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Spiritualität und die Dimensionen der Liebe

Aus: „Bin ich denn nichts wert? Wege zu einem gesunden Selbstwertgefühl“

 

 

Ich kenne alte gläubige Menschen, die aus ihrer Kindheitserfahrung erzählen, man habe ihnen einen Gott verkündet, der sie klein gehalten habe, der sie schüchtern und ängstlich machte, der ihnen ständige Schuldgefühle und Minderwertigkeitsgefühle einflößte. Erst durch einen eigenen persönlichen Glaubensweg haben sie zu einem nicht nur barmherzigen, sondern liebenden Gott gefunden, der einem Freiheit, Eigenständigkeit und Selbstbewusstsein ermöglicht und dafür seelische Stärkung schenkt.

 

Ob Menschen in christlicher Spiritualität eher Minderwertigkeitsgefühle bekommen oder zu einem gesunden Selbstwertgefühl finden, hängt wesentlich von ihrem Gottesbild ab, davon, welche Beziehung in ihrer Vorstellung Gott zum Menschen hat und in welcher Rolle sich der Mensch Gott gegenüber sieht. Oder um es mit anderen Worten zu sagen, wie die Autorität Gottes und sein Wirken in der Welt und im Leben des einzelnen Menschen verstanden wird.

In der Botschaft Jesu erscheint Gott weniger als Herrscher, sondern als mütterlicher, liebevoller Vater. Der Mensch wird weniger als Diener verstanden, sondern als Kind Gottes bzw. als Freund Jesu. Diener müssen dienen, Kinder dürfen erwachsen werden. Ein Mensch, der nicht in erster Linie nach dem Willen von Autoritäten funktionieren muss, sondern der seelisch wachsen und reifen darf, hat günstige Voraussetzungen, ein gesundes Selbstbewusstsein zu bekommen. So wie die Liebe guter Eltern für ihre Kinder in den unterschiedlichen Altersstufen verschiedene Formen seelischer Nahrung darstellt, so enthält auch die Liebe Gottes zu uns Menschen verschiedene Dimensionen seelischer Nahrung, die wesentlich sind für den Aufbau eines gesunden Selbstwertgefühls und für die Überwindung von Minderwertigkeitsgefühlen.

 

Zu diesen Dimensionen der Liebe gehören vor allem folgende:

 

  1. Liebe, die mich umfassend bejaht
  2. Liebe, die mir Achtung und Freiheit schenkt
  3. Liebe, die mich konfrontiert mit den Herausforderungen
    gemeinschaftlichen Lebens
  4. Liebe, die mir Verantwortung anvertraut
  5. Liebe, die mich tröstet in Alter, in Krankheit und Leid

 

Diese Dimensionen der Liebe in der Beziehung zu Gott - oder durch „Stellvertreter Gottes“ in der Gestalt liebevoller Menschen - zu erfahren und für den Zustrom dieser seelischen Energien durch spirituelle Lebensformen sich offen zu halten, ist wesentlich für eine gesunde Religiosität, die Nahrung und Stärkung sein will für ein gesundes Selbstwertgefühl. Wie sind nun diese Dimensionen der Liebe im christlichen Glauben zu verstehen:  => Seitenanfang

 


1. Liebe, die mich umfassend bejaht

 

Es gehört zu den wichtigsten spirituellen Erfahrungen, von Gott wahrgenommen und umfassend sich geliebt zu erleben. Manche erleben dies in einer Art wortlosen Gebet: Sie lassen sich von Gott anschauen und erfahren sich mit der Mannigfaltigkeit ihres Inneren angenommen. Sie spüren, hier bin ich bejaht als Ganzes, hier muss ich nichts verbergen, hier kann ich meine Masken ablegen, hier kann ich seelische Abrüstung betreiben, ich brauche weniger Schutzmechanismen und Abwehrstrategien, hier kann ich mich selbst ehrlich anschauen und zulassen, dass ich bin wie ich bin. So habe ich die Chance, mich selber besser zu verstehen und an mir zu arbeiten, ohne mich seelisch zwanghaft verbiegen zu müssen. Denn grundsätzlich darf ich zuerst so sein, wie ich bin.

Es ist nicht selbstverständlich, dass ein Mensch selbst wahrnimmt, wie es um ihn steht, und es ist nicht selbstverständlich, dass er sich so annimmt, wie er ist.

Je ehrlicher wir zu uns selber sind, desto mehr Unzulänglichkeiten, Fehlverhalten, belastende Eigenschaften, unter denen Mitmenschen und die Umwelt zu leiden haben, entdecken wir an uns. Aber auch körperliche, geistige und charakterliche Schwächen verhindern, dass wir unsere Ziele, unsere Wertvorstellungen, unsere guten Vorsätze immer verwirklichen können. Gegenüber vielem, was in unserer Welt leidvoll und ungerecht ist, erleben wir uns klein, oft hilflos und ohnmächtig.

Diese verschiedenen Formen von Kleinheit, Schwachheit und Hilflosigkeit im eigenen Leben gilt es bewusst wahrzunehmen und anzunehmen. In der Bibel stehen dazu hilfreiche Sätze der Ermutigung und des Trostes.

Eine der schönsten Formulierungen im Alten Testament steht als Gebetstext in Psalm 8: „Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst, was ist des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst?“

Ähnlich in Jes 49,15f: „Kann denn eine Frau ihr Kind vergessen, … und selbst, wenn sie es vergessen würde: ich vergesse dich nicht. Sieh her: ich habe dich eingezeichnet in meine Hände.“

Dem von Schuldgefühlen bedrückten Menschen sagt der Prophet Jesaja: „Wenn deine Sünden rot wären wie Scharlach, sie sollen weiß werden wie Schnee.“ (Jes 1,18).

Im Neuen Testament zeigt Jesus demonstrativ, dass den so genannten Sündern die besondere Zuwendung Gottes gilt. Dies drückt er auch in seinen Gleichniserzählungen aus, wie z.B. im Gleichnis vom verlorenen Sohn (Lk 15,11-32) und im Gleichnis vom verlorenen Schaf (Lk 15,3-7) und ein Schlüsselsatz zu diesem Thema ist die Formulierung der ersten Seligpreisung in der Bergpredigt des Matthäus: „Selig die arm sind …“ (Mt 5,3)

Diese Texte laden ein, sich selbst mit der eigenen menschlichen Armseligkeit wahrzunehmen und sich in den Augen Gottes angenommen und bejaht zu erfahren.

Diese Formulierungen wollen den Menschen von den vielfältigen Kompensationsversuchen seiner Minderwertigkeitsgefühle befreien („erlösen“).

Ein wesentlicher Aspekt von „Erlösung“ im christlichen Sinne lässt sich also verstehen, als ein durch diese Sätze der Bibel angesprochen sein von Gott, der uns eine grundsätzliche Daseinsberechtigung, Werthaftigkeit und Liebenswürdigkeit zusagt, die uns in unserem Dasein als „Kinder Gottes“ geschenkt ist, die wir uns also nicht verdienen, nicht eropfern, erbitten oder erarbeiten müssen. => Seitenanfang

 


2. Liebe, die mir Achtung und Freiheit schenkt

 

Es ist die Erfahrung, dass ich in der Beziehung zu Gott nicht nur Geborgenheit im umfassenden Angenommen- und Geliebtsein erfahre, sondern dass mir diese Liebe spüren lässt, dass sie nicht Besitz ergreifend und in Abhängigkeit haltend ist, dass sie nicht nur ein Dazugehören-Dürfen vermittelt, sondern dass sie mich frei gibt und frei lässt, damit ich mein eigenes Wesen entdecke, zu meinem eigenen „Ich“ finde und die Freiheit erfahre, die es mir ermöglicht, in eigener Souveränität die Grundbeziehungen meines Lebens zu gestalten und meine Begabungen und Talente so zu verwirklichen, dass die Originalität und Einzigartigkeit meines Wesens die Chance bekommt, für mich und für andere Menschen sichtbar zu werden, dass also meine Seele „zur Welt kommen“ kann.

Hier geht es auch darum, die Angst und die Unsicherheit auszuhalten, die in der Entdeckung der eigenen Originalität und damit in dem, was mich von anderen zutiefst unterscheidet, auftauchen kann. Denn die Freiheit, die uns Menschen so wichtig ist, erfahren wir nicht nur als innere seelische Weite, die uns viele Möglichkeiten eröffnet, sondern auch als ein „Geworfen-Sein“, wie es der Existenzialismus in drastischer Weise uns präsentiert hat, auch als ein „Zurückgeworfen-Sein“ auf uns selbst. Freiheit, die keine Geborgenheit und kein inneres Gehalten-Sein kennt, kann zu einer erschreckenden Einsamkeitserfahrung führen. Geborgenheit, die den Weg zur Freiheit nicht öffnet, erfahren wir wie einen goldenen Käfig, der letztlich ein seelisches Besitzverhältnis darstellt.

Echte Liebe ist immer Freiheit schenkend, Eigenständigkeit ermöglichend, ist immer mit Achtung vor der Andersartigkeit des anderen verbunden. Diese Liebe in der Beziehung zu Gott zu entdecken und zu spüren, schenkt ein starkes Selbstwertgefühl. Menschen, die dies erfahren haben, werden im Glauben eigenständig, innerlich frei und stark, auch wenn sie in der Kindheit mit Einschüchterung und Angstmacherei den Glauben beigebracht bekommen haben. => Seitenanfang

 


3. Liebe, die mich konfrontiert mit den Herausforderungen gemein­schaftlichen Lebens

Seelisch nährende, gesunde Liebe schenkt uns nicht nur ein Dazugehörigkeits- und Geborgenheitsgefühl, ermöglicht nicht nur eine Entfaltung unserer Freiheits- und Selbstverwirklichungsbedürfnisse, sondern öffnet uns die Augen für unser Vernetztsein mit den größeren Lebenszusammenhängen menschlicher Gemeinschaften und ökologischer Verflechtungen. So konfrontiert uns Liebe, die uns wirklich ernst nimmt, auch mit den Herausforderungen gemeinschaftlichen Lebens. Da im christlichen Sinne die Liebe und Barmherzigkeit Gottes den Menschen aller Völker, aller Kulturen, Religionen und Gesellschaftsschichten gilt, was durch das Wort „katholisch“ im Sinne von „allumfassend, das Ganze betreffend“ ausgedrückt ist, erfährt der gläubige Mensch in seinem Geliebtsein von Gott her auch den Ruf zur Horizonterweiterung seines Mitgefühls, seiner Verstehensbereitschaft, seiner Solidarität und seiner Achtung für andere. Er erfährt dies als Ruf zur „Umkehr“, zum „Umdenken“, zur „Bekehrung“. Diesen Aspekt der Liebe empfindet der Mensch oft als Infragestellung und Verunsicherung bisheriger Verhaltensmuster und Lebensmodelle, als schmerzhafte „Blindenheilung“, als Konfrontation mit den Notwendigkeiten gemeinschaftlichen Lebens. Für die Befriedung und Heilung menschlicher Gemeinschaften ist dabei vor allem die vorrangige Sorge für die Benachteiligten, für die Armen und für die besonders Bedürftigen wesentlich. Auch wenn diese Dimension der Liebe besonders schmerzvoll und herausfordernd empfunden werden kann, stärkt sie letztlich das Selbstwertgefühl; denn wer die Anforderungen gemeinschaftlichen Lebens in allen Dimensionen menschlicher Existenz zu erkennen vermag und ihnen in menschlich wertvoller Weise gerecht wird, entwickelt ein anderes Selbstbewusstsein, als ein Mensch, der dafür blind ist und in engstirniger Selbstgenügsamkeit dahin lebt. Auch in der therapeutischen Arbeit gibt es die Erfahrung, dass ein Mensch mit einer wachsenden Wahrnehmung seiner sozialen und existentiellen Bezüge und einer entsprechenden Verantwortungsbereitschaft selbstbewusster und zufriedener ist, als eine Person, die mit sehr beschränktem Horizont nur die eigenen Interessen vertritt. => Seitenanfang

 


4. Liebe, die mir Verantwortung anvertraut

 

Liebe, die unser Selbstwertgefühl nähren soll, erfahren wir vor allem auch, wenn wir einen Verantwortungsbereich übertragen bekommen oder in einen Verantwortungsbereich selbst hineinwachsen, wie dies z.B. bei einer Eheschließung und Gründung einer Familie geschieht. Hier wird geschenkte Freiheit nicht nur als das Angebot verschiedener Möglichkeiten erfahren, sondern als Verpflichtung zu Entscheidungen, die uns binden an Menschen und Aufgaben. Erst in solchen Bindungen können sich unsere Talente und Begabungen, kann sich unser Wesen und unsere Originalität so entfalten, dass wir uns selbst als erwachsene Menschen in umfassender Weise ernst nehmen können und uns erst genommen erfahren. Manche gläubige Eltern erleben bei der Tauffeier ihres Kindes diese „anvertraute Verantwortung“ für das Neugeborene als eine spirituelle Erfahrung, die ihnen ein tiefes Selbstwertgefühl ermöglicht. In der Bibel sind spirituelle Erfahrungen in diesem Sinn oft als „Berufungserzählungen“ von Propheten und anderen bedeutenden Personen dargestellt, in denen nicht selten der „Berufene“ sich wehrt und auf seine Jugend hinweist wie der Prophet Jeremia oder auf seine Rede-Unfähigkeit wie Mose. Mancher erlebt das Vertrauen, das ihm geschenkt wird und den Verantwortungsbereich, der ihm übertragen wird, zuerst einmal als Zumutung oder Überforderung und muss erst in seine Aufgabe hinein wachsen. Nicht nur wie man mit Vertrauen oder mit Zumutungen dieser Art umgeht, prägt langfristig das eigene Selbstbewusstsein, auch wie man mit Überforderungen, mit Niederlagen, mit Versagen und Hilflosigkeit umgeht, ist wesentlich für die Entwicklung unseres Selbstwertgefühls. Es ist die Erfahrung gläubiger Menschen auch heute, dass Gott uns Verantwortung und Aufgaben im Sinne einer menschlicheren Welt zumutet, dass er uns aber auch trägt und innerlich hält in unseren Misserfolgen, Enttäuschungen und sogar in unserem selbstverschuldeten Versagen. Gerade dieser Aspekt des spirituellen Erlebens der Beziehung zu Gott kann eine entscheidende Stütze sein für ein gesundes Selbstwertgefühl. => Seitenanfang

  


5. Liebe, die mich tröstet in Alter, in Krankheit und Leid

 

Nicht nur in einer optimalen Entfaltung seines Lebens kann der Mensch Selbstwertgefühl entwickeln und Minderwertigkeitsgefühle überwinden, auch im Abbau bzw. in der Beschränktheit seiner körperlichen und geistigen Möglichkeiten hat er Sehnsucht nach einem gesunden Selbstbewusstsein. Wer nur vom Erfolgsdenken her das Leben betrachtet, wird dies wohl als Unmöglichkeit empfinden; für ihn wird Krankheit und Älter- werden und die damit verbundenen Begleiterscheinungen nur als Lebensverkümmerung interpretiert werden. Aber wer mit alten und sterbenden Menschen viel Kontakt hat, der weiß, welchen Frieden, welche tröstende und stärkende Energien Menschen ausstrahlen, die ihre Lebensgeschichte, ihre körperliche Vergänglichkeit und die Tatsache ihres bevorstehenden Todes angenommen haben. Mit solchen Menschen über „Gott und die Welt“, über „Leben und Tod“ zu reden, kann für andere, die in der Vollkraft ihres Lebens stehen, das Gespür wecken für das Wesentliche und Unwesentliche in den alltäglichen menschlichen Sorgen. In solchen Gesprächen bekommt man eine Ahnung von dem seelischen Weg, den diese Menschen durch Verunsicherungen und Erschütterungen hindurch hinter sich haben. Manche können es in Worte fassen, dass sie auf diesem Weg gelernt haben, sich fallen zu lassen und so vieles loszulassen, was ihnen früher so wichtig und wertvoll war, und dass ihnen dabei innerer Trost und Geborgenheit zugeflossen sind. Da sie diese seelische Stärkung im Zusammenhang mit ihren abnehmenden Kräften nicht als Folge ihrer körperlichen Situation verstehen können, erleben sie dies umso mehr als ein Beschenkt-werden. Gerade diese Erfahrung ermöglicht wieder eine neue Art von Selbstwertgefühl, das eine gewisse Ähnlichkeit hat mit dem Gefühl eines Kindes, das sich umfassend geliebt, beschenkt und bejaht erlebt; aber der alte Mensch kann in seiner Erfahrung des Loslassen-müssens wahrnehmen, was er alles geschaffen hat, was er an Liebe geschenkt und an schöpferischer Kraft investiert hat. Er weiß sich in anderer Weise der Welt, menschlichen Beziehungen und Gemeinschaften zugehörig als ein Kind. Er sieht, was an innerer Verbundenheit und an Bedeutung füreinander gewachsen ist und bleibt, auch wenn er das Leben nicht mehr in der Weise „im Griff hat“, wie in seinen früheren Jahren. Er kann zuschauen und loslassen, er kann „das Zeitliche segnen“ und weiß sich dabei mit dem „Zeitlichen“ ebenso verbunden wie mit dem „Ewigen“.

 

 

In einer gesunden Spiritualität geht es darum, diese verschiedenen Quellen der Liebe in Gott zu entdecken, für diese verschiedenen Formen seelischer Nahrung offen zu werden und sich davon beschenken zu lassen. => Seitenanfang

 

Aus: „Bin ich denn nichts wert? Wege zu einem gesunden Selbstwertgefühl“ von M. Hanglberger

 

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