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Die „kopernikanische Wende“ im Verständnis der
Gefühlswelt
In einigen wichtigen philosophischen Richtungen im alten Griechenland gab es bereits eine allgemeine Abwertung der Gefühlswelt, die dort als Gegensatz zum rationalen Denken gesehen wurde. Verdrängung der Emotionen wurde als wertvolle Selbstbeherrschung gelobt, die dem gebildeten Mann angemessen sei.
Da man die psychologischen Ursachen z.B. von Jähzorn, von sexueller und materieller Gier oder extremer Eifersucht nicht kannte, betrachtete man die Gefühle als gefährlichen Verlust von Moral und Selbstkontrolle. Es war natürlich bereits damals bis in unsere heutige Zeit eine beängstigende Erfahrung, dass Jähzorn und ungezügelte Sexualität destruktive Verhaltensweisen bis hin zum Mord verursachen können. Gleichmut und Unerschütterlichkeit gegenüber dem Wechselspiel der Emotionen sah man deshalb als wesentliche Eigenschaften eines reifen Mannes.
Wichtige Autoritäten der frühen Kirche übernahmen diese Sicht der Gefühlswelt und verstärkten diese Abwertung mancher Gefühle (Zorn, sexuelle Lust, …), indem man sie als Wirken des Teufels interpretierte und damit als absoluten Gegensatz zum Willen Gottes.
Man war überzeugt, dass man mit diesen „sündhaften Gefühlen“ in gewisser Weise den Teufel in sich habe. Den Teufel in sich zu bekämpfen, wie es von den Christen gefordert wurde, bedeutete dann, einen Teil von sich selbst zu bekämpfen. Werden die einen Gefühle als gottwohlgefällig (Liebe, Mitgefühl, …) und andere als sündhaft betrachtet, dann wird der Mensch innerlich zerrissen. Seine Seele wird zu einem ständigen Kampffeld unterschiedlicher Gefühle.
Abgewertete Gefühle wirken tatsächlich oft sehr destruktiv, weil man sie weder versteht noch sie zu verstehen sucht. Gläubige, gewissenhafte Menschen haben Angst vor ihnen, weil man sie nicht immer unter Kontrolle bringt und sie dann destruktive Verhaltensweisen auslösen können. Denn alles Seelische, das abgewertet und unterdrückt wird, entwickelt häufig ein Eigenleben, das sich dem Dialog und der kreativen Kommunikation entzieht.
Da viele Gefühle als Signale der Seele dem Menschen innere, eigenständige Orientierung ermöglichen, verliert der Mensch, der Gefühle gelernt hat zu bewerten und zu unterdrücken, seinen inneren Kompass. Er braucht dann einen „Meister“, der ihm sagt, was zu tun und zu lassen sei. Die Kirche hat dieses Problem mit der Einführung der Gehorsamsverpflichtung der Gläubigen geregelt. Die meisten Gläubigen haben gegen diese Verpflichtung nicht rebelliert, weil sie in ihrer emotionalen Unsicherheit, wenn sie sich von abgewerteten Gefühlen beherrscht erleben, dankbar sind, von den Autoritäten der Kirche Wegweisung zu bekommen.
Dass das Gehorsamsdenken in eklatantem Widerspruch zur Botschaft Jesu steht, war den Gläubigen nicht bewusst. Jesus hat nämlich die Worte „Gehorsam“ und „gehorchen“ nie für Menschen verwendet. Offensichtlich waren sie keine Wertbegriffe in den Augen Jesu. Bei ihm geht es radikal um die Mündigwerdung und damit um die geistig-seelische Selbständigkeit des Menschen. Dies steht im Widerspruch zum Gehorsamsdenken. Besonders seine Gleichnisse sind eine Erziehung der Gläubigen dazu, die eigenen Sinne zu gebrauchen und das eigene Urteilsvermögen zu entwickeln. Sein Vermächtnis des „Neuen Bundes“ beim Letzten Abendmahl ist nicht von der Verheißung des „Neuen Bundes“ beim Propheten Jeremia zu trennen, der diesen bereits ca. 600 Jahre vor Jesus angekündigt hatte und in dem es auch bereits um die radikale Mündigwerdung des Menschen geht (Jer 31, 33-34: „Keiner mehr wird den anderen belehren …“).
Auch die Evangelische Kirche hat seit jeher die Gefühle bewertet, weil sie sich seit Luther vor allem an Paulus orientiert und dieser im Gegensatz zu Jesus häufig die Worte „Gehorsam“ und „gehorchen“ verwendet und damit ein anderes Autoritätsverständnis vertritt als Jesus. Vor allem in der neutestamentlichen Briefliteratur sind manche Gefühle deutlich abgewertet und als Gegensatz zum Willen Gottes dargestellt. Bei manchen Kirchenvätern nimmt dieses Verhalten extreme Züge an.
Das Gehorsamsdenken in der Kirche war ein wesentlicher Grund, warum die Glaubensgemeinschaft in eine „lehrende“ (= befehlende) und „hörende“ (= gehorchende) Kirche aufgespalten wurde und so der Klerikalismus entstand, den Papst Franziskus als Problem der Kirche unserer Zeit bezeichnet. Durch die Übernahme der gesellschaftlichen Ordnung des Mittelalters in der Gestalt von Adel und „gemeinem Volk“ in die Kirchenordnung (Fürstbischöfe, „hochwürdige Priester“ und „Laien“) wurde dieses Problem des Klerikalismus als Ständeordnung der Kirche wesentlich verschärft und für viele Jahrhunderte verfestigt.
Wenn die religiöse Autorität (Kirche, Bischöfe, Priester) Gefühle bewertet, stürzt sie die Gläubigen in ständige Schuldgefühle, da die bewerteten Gefühle wie die meisten anderen Gefühle kommen und gehen – unabhängig von den Willenskräften des Menschen. So nehmen die Gläubigen immer wieder die Existenz der verteufelten Gefühle in sich wahr und sehen sich dadurch als Sünder, weil ein Christ solche Gefühle nicht haben sollte. Menschen, die ständig Schuldgefühle haben, sind leicht einzuschüchtern und zu Gehorsam und Unterwürfigkeit zu bewegen. Gleichzeitig bietet die Kirche den Gläubigen seit vielen Jahrhunderten Riten durch ihre Priester an (Beichte, Schuldbekenntnis in der Hl. Messe), um von diesen Schuldgefühlen wieder frei zu werden. Man schafft also zuerst Schuldprobleme bei den Gläubigen, für die man dann auch eine verpflichtend anzunehmende Lösung bereithält. Wer dieses „Angebot“ nicht annimmt, dem wird mit ewiger Höllenstrafe gedroht. So kann man die Gläubigen an die Kirche binden und sie von ihr abhängig machen.
Man kann nur Abschied von der Bewertung der Gefühle nehmen, wenn man auch die extremen und oft destruktiv wirkenden Gefühle wie Jähzorn und sexuelle Haltlosigkeit als Signale der Psyche versteht, die auf seelische Hausaufgaben hinweisen, die es zu lösen gilt. Dafür bietet die moderne Psychologie die entscheidenden Hilfen, denn sie zeigt, dass es zwei Quellen der Verstärkung von Gefühlen gibt, die dazu führen können, dass diese zerstörerisch werden können:
1. Die eine Quelle sind Verdrängungen
(meist) in der Kindheit, die später im Erwachsenenalter unbewusst und unkontrolliert
aufsteigen und aktuelle Gefühle so verstärken können, dass wir die Kontrolle
verlieren können und sie dann destruktiv wirken. 2. Die zweite Quelle unserer Gefühlsverstärkung ist unsere unbewusste Verbundenheit mit verdrängten Gefühlen unserer Eltern, manchmal auch unserer Großeltern oder anderer Verwandten. Haben also unsere Vorfahren schmerzhafte Dinge erlebt, die sie nicht verarbeiten konnten, sondern verdrängt haben, können die dabei ausgelösten Gefühle von Kindern und Enkelkindern übernommen werden und noch im Erwachsenenalter deren aktuellen Gefühle so verstärken, dass deren Verhalten destruktive Züge annimmt. Wenn wir um diese Zusammenhänge wissen und sie wahrnehmen, dann können wir die Gefühlsbelastungen der Vorfahren bei ihnen lassen, sie mit ihrem Schicksal achten und unser Leben von ihnen annehmen. Dadurch werden wir frei von diesen unbewussten Belastungen und die Vorfahren erfahren Mitgefühl und Achtung für ihr Schicksal, das sie dann leichter annehmen und so ihr Leben umfassender bejahen können. Auch wenn jene Vorfahren bereits verstorben sind, haben Mitgefühl und Achtung gegenüber deren Schicksal eine befreiende und heilsame Wirkung auf die jetzt Lebenden. Bei Familienaufstellungen erfahren auch jene, die die Rollen der Verstorbenen übernehmen, durch Mitgefühl und Achtung von Seiten der Lebenden eine Entlastung. Personen, die im Sinne des religiösen Glaubens eine bleibende Verbindung zwischen Lebenden und Verstorbenen annehmen, können dies als einen Hinweis sehen, dass ein therapeutisch und spirituell heilsamer Umgang mit den belastenden Gefühlen, die man von den Vorfahren übernommen hat, auch diesen zum Segen werden, selbst wenn sie bereits verstorben sind.
Wenn wir nun also aufhören, Gefühle zu bewerten, sondern ihre Signale zu verstehen suchen, werden diese zu einem inneren Kompass, der unser Selbstwertgefühl, unsere Selbständigkeit, unsere Entscheidungskompetenz und damit die Entwicklung hin zu einem reifen Gewissen fördert. Wie differenziert unsere Psyche die innere und äußere Welt mit den Signalen unserer Gefühle wahrnimmt, zeigt folgende Zusammenstellung von mehr als 100 Gefühlen: >>>
Wenn wir also unsere Emotionen nicht mehr unterdrücken und bewerten, sondern sie zu verstehen suchen, werden wir frei von der unsäglichen inneren Zerrissenheit, können eher zu einem inneren Frieden und damit zu einer positiveren Einstellung zu uns selbst und zu unserem Dasein in dieser Welt finden. Wir werden dadurch ein anderes Verständnis von Autorität und Kooperation entwickeln, da wir das Gehorsamsdenken überwinden und von innen heraus unsere Entscheidungen treffen. Dadurch wird die eigene Erfahrung, die eigene Wahrnehmung und das eigene Denken zum Weg der Mündigkeit, wie sie der Würde des Menschen – oder in religiöser Sprache: unserer „Gottes-Ebenbildlichkeit“ – angemessen ist. Diese Sicht der Gefühlswelt und die entsprechende Praxis ist der entscheidende Weg, um geistlichen Missbrauch zu verhindern. (Ausführlicher: Gewissensbildung >>> )
So hat diese positive Sicht der Gefühlswelt für das Verständnis des Menschen eine ähnlich wichtige Bedeutung wie die „kopernikanische Wende“ für das astronomische Verständnis des Universums und unserer Stellung darin. Es
wäre sehr wichtig, auch in der Liturgie und in der Gebetskultur der Kirche
die Wege und die Verwirklichung der ganzheitlichen Mündigkeit zu
thematisieren. manchmal
mehr „wissen“ als
der Verstand: „Der Geist ist oft
eigenwillig, aber das Fleisch ist
wach.“ Manfred Hanglberger Link
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