Drastischer Glaubensschwund in den Ländern der ehemaligen DDR Versuch einer Analyse und Handlungsvorschläge für die Kirchenleitung Von Manfred Hanglberger (Seelsorger und Familientherapeut) Link zum Teilen: https://hanglberger-manfred.de/autoritaetserfahrung-und-glaubensschwund.html Auf der Frühjahrsvollversammlung 2015 der Deutschen Bischofskonferenz zitierte der Apostolische Nuntius, Erzbischof Eterovic, aus einer Studie von Dr. Olaf Müller, Mitarbeiter am Lehrstuhl für Religionssoziologie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, Umfrage-Ergebnisse über die religiöse Situation auf dem Gebiet der ehemaligen DDR: Im Jahr 1990, also nach dem Mauerfall, war der Anteil
derer, die an Gott glaubten bei 33 %. Dieser drastische Glaubensschwund in dieser kurzen Zeit in einem inzwischen freiheitlichen Land hat keine Parallele in einem anderen Teil der Welt. Da ich als Kaplan im grenznahen Bereich (Pfarrei Wunsiedel) zur damaligen DDR die Möglichkeit hatte, des öfteren Besuche im südlichen Teil der DDR (Pfarrei Saalfeld) zu machen, habe ich zusammen mit dem Kaplan von Saalfeld mit Unterstützung des Bischöflichen Jugendamtes in Regensburg sogenannte „Drittlandbegegnungen“ (Junge Christen aus der BRD und der DDR machten gemeinsame Ferien in Polen) organisiert und durchführt. Die vielen Gespräche und Begegnungen mit den Jugendlichen der DDR und ihren Priestern führten später in meiner Reflexion als Familientherapeut zu folgenden Überlegungen: Die Menschen in der DDR haben im vergangenen Jahrhundert zwei katastrophale Zusammenbrüche einer staatlichen Autoritätsperson erlebt: des Kaisers Wilhelm II., der auch als Oberhaupt der damaligen evangelischen Kirche von Preußen galt, und Adolph Hitlers. Die Hoffnungen, die auf diese Personen gesetzt wurden, und die Verehrung, die ihnen zuteil wurde, hatte eine archetypische Struktur. Aber die Verlogenheit, die krankhafte Arroganz der Macht und die skrupellose Ausnutzung der Menschen durch diese Staatsoberhäupter führte später zu einer bodenlosen Enttäuschung, die im Bereich des Autoritätsverständnisses zu einem psychisch-geistigen Zusammenbruch und zu einem seelischen Vakuum führte. Da Kaiser Wilhelm II. dem preußischen Herrschergeschlecht entstammte und das preußische politisch geprägte Moralsystem sehr viel mit Gehorsam und Autoritätshörigkeit zu tun hatte, war die destruktive Wirkung dieser Zusammenbrüche wohl in den ursprünglich preußischen Gebieten noch extremer als in den übrigen deutschen Ländern. Doch auch in diesen – so wurde vor einigen Jahren in einer Europa-weiten Untersuchung festgestellt – ist eine kritische Einstellung gegenüber allen Autoritäten ausgeprägter als in allen anderen Ländern Europas – was sicher mit der spezifischen geschichtlich-politischen Erfahrung der Menschen in Deutschland zu tun hat. Da viele Menschen ihre Erfahrungen mit weltlichen Autoritäten, vor allem das Vaterbild und das Herrscherbild, unbewusst auf Gott projizieren, kann der Glaube an Gott dadurch schwer belastet und sogar zerstört werden. Auch die Führer des SED-Staates hatten für viele Menschen dort keine positive Ausstrahlung eines „Landesvaters“, sondern erschienen nur als „Funktionäre“, als Marionetten der Sowjetmacht. Da die Ereignisse um Kaiser Wilhelm II. und Adolf Hitler schon zeitlich so weit zurückliegen, wird die Wirkung und Bedeutung dieser psychischen Zusammenhänge von vielen nicht mehr reflektiert und erforscht. Aber das Zitat im Dekalog im AT: So ist nicht auszuschließen, dass sich das Problem einer Ablehnung einer göttlichen Autorität noch vergrößert, wenn die Kirche diese Entwicklung nicht religionssoziologisch und psychologisch sehr gründlich analysiert und sehr überlegt und differenziert ihre Verkündigung und ihre Gebetspraxis darauf ausrichtet. Ein Grund für eine zusätzliche Verschärfung des Problems: Die Jugendlichen der DDR zeigten mir bei meinen Besuchen in der DDR vor 30 Jahren ihre Schulbücher, in denen das moderne Weltbild mit den Erkenntnissen der Evolution und der Astronomie dargestellt waren. Gegenüber gestellt und lächerlich gemacht waren die Weltbilder der Bibel und manche Glaubensaussagen der Kirche in diesem Bereich. Da viele gläubige Eltern in der damaligen Zeit die Bibeltexte noch wortwörtlich nahmen, bestand in vielen Familien ein Konflikt zwischen einem Glauben, der sich als bibeltreu verstand und den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen, die den jungen Menschen in der Schule vermittelt wurden. Auch dies führte zu einer Beschädigung der Autorität, die in diesem Fall die Eltern verkörperten, aber die auch häufig auf Gott projiziert wird. Deshalb ist auch dieser Konflikt schädigend für den christlichen Glauben. Meine
Überlegungen für mögliche Reaktionen der Kirche: 1. Das Thema „Autorität“ ist für die Kirche in Deutschland aus historischen Gründen von herausragender Bedeutung! 2. Die Entwicklung des Glaubens bei den Menschen hier – besonders bei denen, die aus der früheren DDR stammen - ist soziologisch und psychologisch gründlich zu analysieren, um von realistischen Fakten ausgehen zu können. 3. Das Autoritätsverständnis Jesu ist im Dialog mit den politischen, pädagogischen und psychologischen Erkenntnissen über eine zeitgemäße Autoritätsausübung in einer allgemein verständlichen Weise darzustellen. 4. Da das Verständnis Jesu sowohl der zwischenmenschlichen Autorität wie sein Verständnis der Autorität Gottes einen konfliktreichen Gegensatz gegenüber dem Verständnis der damaligen religiösen Führer darstellte, war auch dieser Gegensatz einer der Gründe für seine Verurteilung zum Tod am Kreuz. Deshalb gehört Jesu Autoritätsverständnis und Autoritätspraxis zu den wesentlichen Inhalten christlicher Verkündigung und christlicher Lebenspraxis. 5. Da wir Menschen wesentliche Lebensbelastungen und Lebensängste durch autoritäre und entmündigende Formen der Autoritätsausübungen in Familie, Schule, Beruf und Politik erleben, gehört ein Wandel der Autoritätsausübung im Sinne der Botschaft Jesu zu den wesentlichen Erfahrungen von Erlösung. Dies ist in der Glaubensverkündigung der Kirche zu bedenken. 6. Besonders entscheidend ist es, die Autoritätsausübung Gottes sowohl gegenüber seiner Schöpfung wie gegenüber den Menschen in einer zeitgemäßen Sprache zu beschreiben. Neben den neutestamentlichen Aussagen sind dabei vor allem die Formulierung von der „Autonomie der irdischen Wirklichkeiten“ (Gaudium et Spes) und die Erkenntnis der Subsidiarität auch in der Autoritätsausübung Gottes zu bedenken. 7. Daraus folgernd wären viele Gebete in den liturgischen Texten zu verändern, die nicht mehr einem für unsere Zeit angemessenem Verständnis vom Wirken Gottes in der Welt und in der Psyche des Menschen entsprechen. 8. Hilfreich für eine zeitgemäße Gebetssprache wäre eine zeitgemäße Glaubenslehre in den Bereichen „naturwissenschaftliches Weltbild und christlicher Glaube“ und „Psychologie und christlicher Glaube“. Man stelle sich vor, die Kirche hätte in diesen beiden Bereichen ein ähnliches Ansehen wie mit ihrer „Katholischen Soziallehre“. Aber die Defizite in diesen genannten beiden Bereichen sind eklatant und müssten dringend aufgearbeitet werden. 9. Die
Kirche hat die Aufgabe, in Verkündigung und Lebenspraxis ständig deutlich zu
machen, dass alle Autorität eine dienende, aufrichtende, heilende,
versöhnende, prophetische – aber auch zur Verantwortung rufende und zu
Verantwortung befähigende Funktion hat. 10. Die in diesem Zusammenhang vom päpstlichen Nuntius bei der Frühjahrsvollversammlung 2015 der Deutschen Bischofskonferenz geforderten Verbesserung des medialen Engagements und der Predigten müsste also meiner Meinung nach ergänzt werden durch eine Verbesserung der Glaubenslehre, der Gebete, des christlichen Autoritätsverständnisses und der kirchlichen Autoritätspraxis. 11. Durch diese Vorgehensweise – so glaube ich – könnte die Bewusstmachung des Gegensatzes zwischen vielen weltlichen Formen der Autoritätsausübung (von Vätern, Herrschern und Politikern) einerseits und der Ausübung göttlicher und kirchlicher Autorität andererseits dazu führen, dass verhindert wird, dass negative, weltliche Autoritätsausübung auf Gott projiziert wird und dadurch den Glauben schädigt. 12. Wenn in den weltlichen Medien Filme an die Öffentlichkeit gebracht werden - wie kürzlich der Film „Exodus“ -, wäre es wichtig, dass kirchliche Bibelwissenschaftler, Bischöfe und kirchliche Medien dazu die zeitgemäßen Erkenntnisse der Bibelexegese in einer allgemein verständlichen Weise veröffentlichen, um deutlich zu machen, dass die in solchen Filmen oft dargestellten Weisen der Autorität Gottes und die Art seines Wirkens in der Welt keineswegs dem christlichen Glauben entsprechen, sonst haben solche Filme gerade für die jüngere Generation eine Glauben-zerstörende Wirkung. Die Macht solcher Bilder ist für einen gesunden Glauben meiner Meinung nach sehr gefährlich. Ich wäre sehr froh und dankbar, wenn Papst Franziskus eine Aktualisierung der katholischen Glaubenslehre zu folgenden Themen anregen und veröffentlichen würde: ·
„Das naturwissenschaftliche Weltbild und der
christliche Glaube“ ·
„Das Person-sein des
Menschen aus psychologischer und theologischer Sicht“ ·
„Das christliche Autoritätsverständnis“ Diese Themen – so glaube ich – sind für die stark von der Säkularisierung betroffenen Länder Europas von vordringlicher Bedeutung, langfristig wohl für alle Völker der Welt. Ich habe die Hoffnung, dass die Kirche in absehbarer Zukunft zu zeigen in der Lage ist, dass ihre Glaubenslehre auch in den Bereichen „naturwissenschaftliches Weltbild“, „Psychologie“ und „Autoritätsverständnis“ ein ähnliches Ansehen und eine ähnliche Wirkkraft besitzt wie ihre „Katholische Soziallehre“. Auch wäre ich sehr froh und dankbar, wenn die Theologie und die Spiritualität von päpstlichen Enzykliken Eingang fänden in die Gebets- und Liturgie-Kultur der Kirche und dadurch leichter auch in die Praxis des kirchlichen Lebens. So könnte eine solche Theologie zu einer gebeteten und das Leben prägenden Theologie werden. Wäre dafür ein beschreitbarer Weg, wenn der Papst mit der Veröffentlichung einer Enzyklika die gesamte Gemeinschaft der Kirche dazu einladen würde, Gebete zu den wesentlichen in dieser Enzyklika enthaltenen Aussagen zu formulieren? Diese Gebete könnten von der Kirchenleitung bzw. von den liturgischen Instituten gesammelt, geprüft, evtl. überarbeitet und aussortiert und die besten Ergebnisse veröffentlicht werden. Die Qualität mancher dieser Gebete müsste so sein, dass sie als Orationen auch in der Hl. Messe verwendet werden könnten, damit auf diese Weise die breite Schicht der Kirchgänger mit diesen Glaubensanliegen in Berührung kommen. Ein solcher geistlich-spiritueller Dialog zwischen Kirchenleitung und Kirchenbasis könnte das kirchliche Leben bereichern und die Rezeption der kirchlichen Glaubenslehre verbessern. Link zum Teilen: https://hanglberger-manfred.de/autoritaetserfahrung-und-glaubensschwund.html Weitere Vorschläge zur Neu-Evangelisierung in: www.hanglberger-manfred.de/neu-evangelisierung.htm |
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