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Die Erlösungsbedürftigkeit des Menschen:

 

Die traditionelle Sicht der Erlösungsbedürftigkeit des Menschen – wie sie in den Texten der Eucharistiefeier zum Ausdruck kommt – geht von der Erbsünde aus, die als Ursache für die Sündhaftigkeit und Todesverfallenheit des Menschen gesehen wird.

Sündhaftigkeit und Schuld des Menschen scheinen die zentralen Probleme des Menschen vor Gott zu sein.

Aufgrund der Erkenntnisse der Evolution über die Entwicklung der Menschheit und aufgrund der modernen Bibelforschung, die die Bedeutung der Pardieseserzählung mit neuen Augen sieht, stellt sich die Frage nach der Erlösungsbedürftigkeit und die Vorstellung von Erlösung neu.

 

Im Dialog mit den modernen Humanwissenschaften bekommt man den Eindruck, dass fundamentale Ängste, die mit dem Wesen des Menschen und mit seiner Entwicklung zum Bewusstsein zu tun haben, eine zeitgemäße Vorstellung von „Erlösungsbedürftigkeit“ darstellen.

 

Dies soll in den folgenden sieben Thesen, die als Diskussionsgrundlage dienen, entfaltet werden: (4 DIN-A4-Seiten)

 

1.   Der Mensch als Wesen mit einer seelisch-geistigen Innenwelt

 

Der Mensch entwickelte auf seinem Weg der Evolution aus der Tierwelt ein immer klareres Bewusstsein und dadurch eine ausgeprägte seelisch-geistige Innenwelt.

Wegen dieser seelisch-geistigen Innenwelt weiß der Mensch nicht wie seine Mitmenschen über ihn denken und diese wissen nicht wie er über sie denkt.

Aber gerade dies ist für sein Selbstwertgefühl und für sein Dazugehörigkeitsgefühl zu menschlichen Gemeinschaften und zum Ganzen der großen Lebensgemeinschaft der Natur sehr wichtig:
=> Ist die Sicht der Mitmenschen von grundsätzlicher Achtung, Wertschätzung und Wohlwollen geprägt oder von Eigeninteressen und Bewertungen oder gar von Verachtung, Abwertung und Machtkalkül?

Vertrauen und Wertschätzung einerseits  und Misstrauen und Verachtung andererseits gehören deshalb zu den grundsätzlichen menschlichen Erfahrungen, die wesentlich seine Beziehungen zu seinen Mitmenschen prägen.

 

Erfahrung von Erlösungsbedürftigkeit:

Misstrauen, Angst voreinander, innere Distanz, Isolation, Kommunikationsblockaden, …

 

Erfahrung von Erlösung durch den „Glauben an Gott“:
Gott kennt mich bis ins Innerste meines Wesens, er weiß um meine geheimsten Gedanken und Eigenheiten. Er sagt umfassend JA zu mir und zu meinem Dasein. Meine Daseinsberechtigung brauche ich vor ihm nicht zu erarbeiten, nicht zu verteidigen oder zu erkämpfen – sie ist mir grundsätzlich von Gott geschenkt!
Diese Sicht Gottes hat uns Jesus in seinen Worten und Taten geoffenbart und in seinem Tod und seiner Auferstehung wurde die Gültigkeit dieser Botschaft Jesu von Gott bestätigt. „Erlösung“ erfahren wir deshalb, wenn wir in der Beziehung zu Jesus in diese seine vertrauensvolle Beziehung zum himmlischen Vater uns einfügen.

 

2.   Der Mensch als Beziehungswesen

 

Als soziales Wesen ist es für den Menschen wichtig, in den Gedanken und Gefühlen von Mitmenschen einen „Ort“ des Mitgefühls, der Anteilnahme und der Solidarität erleben zu dürfen. Dadurch entstehen wichtige Beziehungen des Vertrauens, der gegenseitigen Wertschätzung und der Freundschaft.

 

Erfahrung von Erlösungsbedürftigkeit:

Nicht wahrgenommen-werden, keine Anteilnahme, keine Solidarität, Angst voreinander, ständiges zwischenmenschliches Versteckspiel, …

 

Erfahrung von Erlösung:

Der Mensch kann „Erlösung“ erfahren durch den „Glauben an die Kirche“ als einer Gemeinschaft von wertschätzenden, ehrlichen und solidarischen Menschen, die sich um eine wertorientierte und verantwortungsvolle Lebensgestaltung bemühen und sich von Gott geliebt und angenommen wissen.

Dieser Glaube und die Zugehörigkeit zu einer solchen Gemeinschaft von Menschen ermutigt zu angstfreier, offener und engagierter Kommunikation. Angstfreie Kommunikation hilft, auf dem Weg der Selbsterkenntnis und der Selbstannahme voranzuschreiten, Verdrängungen und Projektionen aufzudecken, zu verstehen und aufzulösen.

 

 

3.   Der Mensch als „Original“ bleibt als „Kind Gottes“ ein unbegreifliches „Geheimnis“ für sich und andere

 

Es gehört zur „Würde des Menschen“, dass er weder für sich selbst noch für andere Menschen völlig begreifbar ist. Deshalb braucht der Mensch nicht nur Zuwendung und Solidarität, sondern auch Achtung gegenüber seinem „Anders-sein“.

Denn an der Grenze des Verstehens beginnt entweder Verachtung und Abwertung oder die wahre Liebe, die nicht nur Zuwendung und innere Verbundenheit bedeutet, sondern auch Achtung vor der Andersartigkeit und Originalität des anderen.

Vielfalt und Unterschiedlichkeit von Erfahrungen, Gefühlsreaktionen, Meinungen und Interessen sind normal und gehören zum Wesen menschlicher Gemeinschaften.

Toleranz und damit das Aushalten von Gegensätzen und Meinungsverschiedenheit brauchen eine gute Gemeinschaft, um abwertendes und Angst-besetztes Verhalten und Denken abzubauen.

Einheit in Vielfalt sind die Wesenszüge einer Gemeinschaft, in der jeder geachtet ist und es keine Unterdrückung und Herrschaftsverhältnisse gibt.

 

Erfahrung von Erlösungsbedürftigkeit:

Verachtung, Abwertung, Unverständnis; Angst, nicht verstanden zu werden bzw. den anderen nicht verstehen zu können; …

 

Erfahrung von Erlösung:

„Erlösung“ kann erfahren werden durch den „Glauben an den Menschen als >Kind Gottes< und an die Kirche als Gemeinschaft von >Kindern Gottes< und als Originale“:

Dieser Glaube bewahrt vor urteilendem und bewertendem Denken und Reden, versucht jeden in seiner Originalität und Eigenart zu achten und verharrt im Bemühen des Verstehens, auch wenn dies manchmal keine Fortschritte erkennen lässt.
Auch im Nicht-verstehen und im Nicht-verstanden-werden bewahrt man die grundsätzliche Achtung voreinander.

Eine solche Atmosphäre der Achtung schafft einen seelischen Raum, in dem jeder mit seiner Eigenart sich entfalten kann und sich dazugehörig erlebt.

 

Kritik und Streit werden dadurch konstruktiv und hilfreich erlebt, weil sie niemand ausgrenzen, abwerten und beleidigen, weil sie von einer grundsätzlichen gegenseitigen Achtung und Wertschätzung getragen sind.

 

Gemeinschaften, in denen ein solcher Geist herrscht, helfen den Einzelnen sich weiterzuentwickeln, helfen die Kommunikation und den lebendigen Austausch zu pflegen und helfen, die Probleme und Herausforderungen sowohl innerhalb wie außerhalb der Gemeinschaft wahrzunehmen, zu bearbeiten und gute Wege der Lösung zu finden.

 

4.   Der Mensch muss den absoluten Wert seines Wesens („Würde“) und den Sinn seines Lebens erst entdecken

 

Misstrauen und Angst voreinander sind in der menschlichen Kultur oft notwendig und natürlich, aber wenn sie das Leben eines Menschen allzu sehr bestimmen, machen sie einsam und lassen das Dasein als sinnlos erscheinen. Manche Menschen werden dadurch hartherzig, egoistisch und rücksichtslos, andere werden mutlos, zurückgezogen und depressiv.

Einsamkeit und Sinnlosigkeitserfahrungen blockieren die Entwicklung zu einem gesunden Selbstwertgefühl und den Aufbau von lebendigen, von Vertrauen und Solidarität getragenen menschlichen Beziehungen.

 

Erfahrung von Erlösungsbedürftigkeit:

Bedrückende Einsamkeit und Sinnlosigkeitserfahrungen.

 

Erfahrung von Erlösung:

Mitgefühl, Anteilnahme, Entdeckung der eigenen Originalität und Werthaftigkeit, Entdeckung der eigenen Talente und Fähigkeiten und deren Bedeutung für sich und andere, Entdeckung einer Aufgabe, einer „Sendung“ – um damit eine Bedeutung für andere und für die Natur zu haben.

 

5.  „Die Angst, nichts wert zu sein“ kann viele natürliche Auslöser haben:

 

·      Die Kleinheit des Menschen angesichts der gewaltigen Dimensionen von Raum und Zeit.

·      Kleinheitserfahrungen in der Anonymität der Masse der Menschen.

·      Kleinheitserfahrungen angesichts der Undurchschaubarkeit und dem Ausgeliefertsein an mächtige gesellschaftliche und wirtschaftliche Interessensgruppen.

·      Kleinheitserfahrungen angesichts von Vergänglichkeit, Krankheit und Tod.

 

Erfahrung von Erlösungsbedürftigkeit:
„Angst, nichts wert zu sein“ wegen natürlicher Kleinheitserfahrungen

 

Erfahrung von Erlösung:

Staunen über das Wunder des Daseins und der Schöpfungszusammenhänge.
Entdeckung, dass alles miteinander verbunden ist.
Im Denken und im Bewusstsein jedes Menschen spiegelt sich die Welt nochmal in einzigartiger Weise.
Jeder ist berufen, mit dem Ganzen und mit der Vielfalt der Schöpfung (wie Gott) verbunden zu sein (Was seelisch verbunden ist, ist der Vergänglichkeit entzogen!)

 

6.   Angst und Verwirrung angesichts der Gegensätze der eigenen Gefühlswelt

 

Erfahrung von Erlösungsbedürftigkeit:
Innere Unsicherheit, Entscheidungsblockaden, Selbstzweifel, Minderwertigkeitsgefühle, Ratlosigkeit, Orientierungslosigkeit,

 

Erfahrung von Erlösung:

Ich bin mit allen meinen Gefühlen und Stimmungen von Gott angenommen;
er hilft mir, mich ehrlich und aufmerksam selbst wahrnehmen und annehmen zu lernen und dann langsam durch psychologisches Wissen und heilsame Riten mich selbst immer besser verstehen zu lernen, um entscheidungsfähig zu werden und eigenverantwortlich mein Leben gestalten zu können.

 

7.   Die Ängste, die durch Defiziterfahrungen, Verletzungen und Überforderungen in der Kindheit verursacht sind.

 

Erfahrung von Erlösungsbedürftigkeit:

Angst und Verzweiflung wegen wiederkehrender schmerzhafter Konflikte mit Mitmenschen.

Aggressive und/oder depressive Grundstimmungen; dünne seelische Haut: extreme Gefühlsreaktionen; Schwierigkeit, vertrauensvolle und stabile mitmenschliche Beziehungen aufzubauen; Rückfall in problematische kindliche und jugendliche Verhaltensweisen; Schuldzuweisungsverhalten gegenüber den Eltern und anderen „Autoritäten“; Weigerung, Verantwortung zu übernehmen; merkwürdige belastende Schuldgefühle; Neigung zu Grenzüberschreitungen; Minderwertigkeitsgefühle; …

Gefühlsverdrängungen in der Kindheit führen zu belastenden Projektionen und Konflikten in der Gegenwart.

Systemische, generationsübergreifende Belastungen (unbewusste Gefühlssolidarität mit einem Vorfahren) führen ebenfalls zu belastenden Projektionen und Konflikten in der Gegenwart.

 

Erfahrung von Erlösung:

Gott sagt umfassend JA zu mir und ruft mich zur Verantwortung, auch selbst zum Ganzen meines Lebens JA zu sagen. Dafür muss ich es umfassender wahrnehmen, mich mit meiner Kindheit und Lebensgeschichte auseinandersetzen und erkannte Belastungen auflösen.

Gottes umfassendes JA gilt auch meinen Eltern und den anderen Vorfahren, mit denen ich bewusst und unbewusst verbunden bin. So ruft er mich zur Verantwortung, das Schicksal meiner Vorfahren wahrzunehmen und zu achten, von ihren Fehlern ebenso wie von ihren Leistungen zu lernen und durch heilsame Riten frei zu werden von unbewussten Verstrickungen.

So wie Gott niemand ausgrenzt und verachtet, ruft er mich, über niemand zu urteilen und niemand zu verachten, sondern mich zu bemühen, immer auf dem Weg eines tieferen Verstehens zu bleiben.

 

Schlussfolgerung:

 

Wenn es beim christlichen Verständnis von „Erlösung“ nicht um einen Opfertod Jesu im Sinne eines Sühnopfers zur Erlösung von unseren Sünden geht, dann braucht es auch keinen „Opferpriester“, der als Mann den Mann Jesus repräsentiert. Dann braucht es vielmehr spirituell sensible Männer und Frauen, die das Bewusstsein als Kinder Gottes verinnerlicht haben und ihre Mitmenschen als „Kinder Gottes“ achten. Diese „geistlichen Begleiter“ werden sowohl die unerlösten Ängste ihrer Mitmenschen wahrnehmen als auch durch wertschätzende und heilende Worte und Riten die Gläubigen, ihre menschlichen Beziehungen und Gemeinschaften auf den Weg der Erlösung durch Gott führen können – also zum Bewusstsein, von Gott umfassend geliebt zu sein, zu einer Wertschätzung und Achtung gegenüber ihren Mitmenschen und einer tiefen Verbundenheit und Verantwortung gegenüber der Lebensgemeinschaft der Natur.

 

Siehe auch: Verständnis von „Erlösungsbedürftigkeit“ und von „Erlösung“ in der Erlösungsenzyklika „REDEMPTOR HOMINIS“ von Papst Joh.-Paul II. (1979) >>>

 

Manfred Hanglberger (www.hanglberger-manfred.de )

LINK: https://hanglberger-manfred.de/eucharistie-erloesungsbeduerftigkeit.htm

 

 

>>> Eucharistiefeier als „Mahlgemeinschaft statt Stehempfang“

 

>>> Überlegungen für Inhalte eines erneuerten Ritus der Eucharistiefeier

 

>> Erlösungsenzyklika (vollständiger Text, 34 Seiten) zum Downloaden

 

>> Eucharistie als Feier des „Neuen Bundes“ und des „Noah-Bundes“

 

>> Warum wurde Jesus zum Tode verurteilt und gekreuzigt?   (>>中文| >> English| >> Francais)

 

>> Predigt zum Osterfest, zum Thema Auferstehung Jesu

 

>> Der Kreuzestod Jesu in seiner erlösenden Wirkung (M.Hanglberger)

 

>> „Erlösung“ – wovon? (M.Hanglberger)

 

>> Erlösung nur von Schuld und Sünde? (M.Hanglberger)

 

>> Wie steht Gott zur Schuld des Menschen? (M.Hanglberger)

 

>> Vom Zweck zum Sinn des Kreuzes (Eugen Biser)

 

 

>> „Erlösung vom Stiergott“ von G,Baudler

 

>> Lorenz Zellner: Jesu Erlösungsverständnis

 

>> Lorenz Zellner: Wollte Jesus leben oder sterben?
>>> Lorenz Zellner: Grundlegende Kritik an der Opfer-Theologie der Kirche
>>> Ein Beitrag zur Auseinandersetzung über eine Reform der Eucharistiefeier (aus Österreich)

 

>> Simon von Cyrene und Judas (von Christine Busta)

>> Segnung eines Kreuzes

 

>> Heilungserzählungen im Markus-Evangelium

 

>> Karfreitag: Fürbitten

 

>> Kreuzweg-Andacht (A4 quer zum Falten zu A5)

 

>> Kinderkreuzweg (Infos, Leseproben und Bestellmöglichkeit)

 

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